Der Sankt Petersburger Schriftsteller Evgenij Vodolazkin gab begeisterten Lesern in Berlin Autogramme.
Galerie Quadrat, Fotograf: Eric ErshunErst mit 50 Jahren beginnt der Literaturwissenschaftler aus Sankt Petersburg mit dem Schreiben von Prosa. Drei Jahre arbeitet er an einem Roman, basierend auf der altrussischen Geschichte. Als er fertig ist, gibt er das Manuskript mit dem Titel „Laurus“ seiner Frau zu lesen. Die ist begeistert: „Ich finde es sehr gut“, sagt sie, „doch du weißt, dass so etwas beim Publikum nicht ankommt.“
Das weiß er ganz sicher. Und doch ist die erste Auflage bereits nach drei, vier Wochen vergriffen. Das Buch wird ein Bestseller und erhält eine der wichtigsten Literaturauszeichnungen in Russland, den großen „Bolschaja Kniga“-Preis. „Laurus“ wurde bislang in mehr als 20 Sprachen übersetzt. „Seitdem habe ich so gut wie keine Zeit mehr für die Wissenschaft“, beklagt sich Evgenij Vodolazkin schmunzelnd am Sonntag in der Berliner Galerie Quadrat, wo er seinen neuen Roman vorstellte. „Die meisten Einladungen lehne ich ab und trotzdem bin ich die ganze Zeit unterwegs.“
Ganze fünf Jahre hat Vodolazkin in Deutschland gelebt und gearbeitet. Er erinnert sich gerne an diese Zeit – an das ruhige Leben in München, an seine deutsche Kollegen und Sonntagsgottesdienste in der russisch-orthodoxen Kirche. Das Leben weit von der Heimat entfernt macht einen Menschen „dünner“, „empfindlicher“, wie er sagt; die Distanz zur Heimatstadt erschaffe erst die Bedingungen, um sich mit dem Leben daheim auseinanderzusetzen.
„Umberto Eco interessiert sich für Geschichte, und ich interessiere mich für die Geschichte der Seele“, so Vodolazkin zu seinen Lesern. Quelle: Galerie Quadrat, Fotograf: Eric Ershun„Das Gefühl, ein Fremder zu sein, ist eine nützliche Erfahrung, sie ist kostbar und für die persönliche Entwicklung unvermeidbar“, erklärte Vodolazkin in Berlin. In einem kollektivistisch geprägten Russland plädiert der Schriftsteller für die Autonomie des Einzelnen. „Ich unterschreibe keine kollektiven Briefe und halte mich aus der Politik raus. Genauer gesagt: Ich betrachte und bewerte jedes Ereignis einzeln und verzichte auf jede Art Pauschalisierung“, sagt der Schriftsteller.
Sein ruhiger „akademischer“ Ton, seine Vernunft und Ironie kommen gerade in den Zeiten, in denen die Gesellschaft von einer Spaltung bedroht ist und immer radikalere Schritte an Popularität gewinnen, gut an. „Der russische Umberto Eco“, wie er von der Presse genannt wird, etabliert sich allmählich als eine moralische Autorität.
Dabei ist Vodolazkin keineswegs konservativ – „Laurus“ trägt den Untertitel „der nichthistorische Roman“. Dieser ist eine postmoderne Saga, eine klare Abrechnung mit dem Konzept „Zeit“, eine zeitlose Geschichte. Der wandernde Mönch, ein Heiliger, ein Narr, ein Arzt, der seine Namen und seine Biografie ständig wechselt, pilgert durch das Russland des 15. Jahrhunderts und findet dort beispielsweise Plastikflaschen. „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel Kritik und Ärger ich wegen dieser Plastikflasche in meinem Buch bekam“, erzählte Vodolazkin seinem Berliner Publikum. Dabei diente sie nur einem bestimmten Zweck: zu zeigen, wie illusorisch Zeit wirklich ist.
„Trotz aller Schwierigkeiten betrachte ich eine Kulturrenaissance in Russland“, berichtete Vodolazkin. „In Irkutsk etwa kommen zu einem Treffen mit einem Schriftsteller 500 Menschen, die eine solche Menge an klugen und wichtigen Fragen stellen, dass man Monate brauchen würde, um sie alle zu beantworten.“ Vodolazkin nimmt in Russland „eine neue Energie“ wahr. Der Schriftsteller nehme wieder eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Leben ein.
Dieser russische Literaturzentrismus habe zwar auch gefährliche und unschöne Seiten, betonte Vodolazkin. Es wäre falsch ihn zu ignorieren oder gar zu leugnen. „Zurzeit gilt es als Fauxpas, literarische Neuerscheinungen nicht zu kennen. Es ist eine klare Wende, die erst im letzten Jahrzehnt so deutlich wurde.“
Der neue Roman von Vodolazkin „Aviator“ („Der Flieger“), aus dem der Schriftsteller in der deutschen Hauptstadt las, erscheint in Russland am 8. April und beschäftigt sich wieder mit dem Phänomen Zeit – diesmal im 20. Jahrhundert. Der Protagonist, ein Künstler mit dem literarischen Namen Platonow, erinnert sich der oder durchlebt erneut – diese Grenze ist bei Vodolazkin verschwommen – die kleinen vergessenen Details, die sein Leben ausmachen. Eine weitere Rebellion gegen die Zeit von einem inzwischen renommierten und international anerkannten Autor. „Das kann nur Literatur schaffen – die kleinen Details, die für immer weg sind, zu retten. Dafür ist sie da.“
Evgenij Vodolazkin wurde 1964 in Kiew geboren und arbeitet nach einem Philologiestudium und der Promotion seit 1990 in der Abteilung für Altrussische Literatur im Puschkin-Haus (Institut für russische Literatur) in Sankt Petersburg. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Werke und Artikel publiziert. Aufgrund von Forschungsstipendien der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S und der Alexander von Humboldt-Stiftung verbrachte er mehrere Jahre in Deutschland. Sein zweiter Roman „Laurus“ ist ein internationaler Erfolg, der bereits in über 20 Ländern verlegt wurde. Evgenij Vodolazkin lebt mit seiner Familie in Sankt Petersburg. (Quelle: Dörlemann Verlag)
Auf Deutsch ist „Laurus“ im Februar 2016 im Dörlemann Verlag, Zürich, erschienen. ISBN: 9783038200277
Die Lesung wurde von Russia Beyond The Headlines und Quadrat organisiert. Dabei versteht sich Quadrat (Quadrat - Repräsentanz Berlin) als eine interdisziplinäre Künstlergruppe, die unterschiedliche Neoklassik- und Science-Art-Projekte länderübergreifend gestaltet und durchführt. Die Galerie Quadrat hat ihren Sitz in der Lückstraße 72-73 in Berlin-Lichtenberg seit Ende 2015.
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