Ein einzigartiges mechanisches Puppentheater führt Sie hundert Jahre in ein russisches Dorf zurück

Egor Kotschurow
Können Sie sich vorstellen, dass ein Bruegel-Gemälde zum Leben erwacht und sich all die kleinen Menschen nach ihrem eigenen Szenarium bewegten? Dies ermöglichte ein russischer Analphabet.

In der alten russischen Stadt Uljanowsk, dem Geburtsort des Revolutionärs Wladimir Lenin, kann man ein erstaunliches mechanisches Puppentheater bewundern. Stellen Sie sich einen großen Tisch vor, auf dem eine ganze Dorfgemeinschaft untergebracht ist – 49 kleine Figuren, von denen jede ihrer eigenen Beschäftigung nachgeht. Der eine wäscht Wäsche, ein anderer sägt, jemand kocht – und alle bewegen sich gleichzeitig.

Ein Tag aus dem Leben des Dorfes

Dieses riesiges Spielzeug ist im Museum des hiesigen Puppentheaters zu finden. Alexej Morosow, ein ungebildeter, aber sehr talentierter Bauer, schuf es im frühen 20. Jahrhundert, etwa in den Jahren 1905 – 1912.

Der Mechanismus arbeitet nach dem Prinzip einer Drehorgel: Früher musste eine Kurbel gedreht werden, jetzt versetzt ein Elektromotor die Puppen in Bewegung. Alles ist so geschickt gefertigt, dass Sie kleinste Bewegungen und Details erkennen können.

Hier siebt die eine Frau Mehl, während andere den Kohl für den Winter hacken. Ihre Zöpfe bestehen aus Naturhaar. Am anderen Ende des Tisches wäscht die Mutter der Familie die Wäsche in einem Trog und ihre Tochter schaukelt im Kinderwagen das jüngere Geschwisterkind.

Nebenan sind Männer auf einer Baustelle beschäftigt, Schuhmacher fertigen Schuhe: Sie haben winzige Werkzeuge in der Hand.

In der Mitte spinnt ein Mädchen Garn und daneben bedient eine Frau den Webstuhl – mit ihren Füßen stellt sie die Höhe des Webstuhlwagens ein.

Ein paar Männer spalten einen Baumstamm: Einer hält die Axt, der andere hilft ihm, führt ermüdet eine Zigarette an die Lippen und schaut dabei auf das Publikum. Es scheint, als würde der Baumstamm gleich auseinanderbrechen, aber so sieht es schon seit einhundert Jahren aus.

Hier versammelt sich die Familie zum Abendessen: Die Ehefrau, der Mann, die Kinder und die Oma mit Falten auf der Stirn. Sie füttert das Kleinkind, führt den Löffel zum Kind, und dieses nimmt das Essen in den Mund, dreht dann den Kopf und spuckt den Brei wieder aus.

Der vergessene Meister

Es heißt, dass Alexej Morosow in dieser Miniatur sich und seine eigene Familie dargestellt hat, und deshalb können wir uns vorstellen, wie er aussah. Keine Zeichnungen, keine Fotos des Meisters blieben erhalten. Es ist lediglich bekannt, dass er um 1867 in der Stadt Schadrinsk im Ural geboren wurde und jedes Frühjahr mit seinem Puppentheater durch das Land reiste, um auf Jahrmärkten in ganz Russland aufzutreten. Er nannte seine Puppensammlung einen „zum Leben erwachten Baum“. Für jede Szene dachte er sich kleine Gedichte aus, die den Kindern sehr gefielen.

Er war zu Lebzeiten ein berühmter Meister. Im Jahr 1923 zeigte Morosow seine Sammlung auf der ersten Allunionsausstellung Kustprom (dem Vorgänger der WDNCh) und erhielt dafür ein Diplom und eine Goldmedaille. Irina Majsakowa, die Direktorin des Museums, erzählte, dass für diese Ausstellung wahrscheinlich auch noch andere Kompositionen angefertigt wurden: „Ein Tag in der Kolchosen-Verwaltung“, „Ein Tag in einer wohlhabenden Bauernfamilie“ und „Ein Abend im Dorfklub“.

Nach der Ausstellung konzipierte der Meister eine neue Komposition. 1934 zog er mit seiner Familie nach Majna, einen Vorort von Uljanowsk, wo er zwei Jahre später verstarb. Dort wurde er auf dem Dorffriedhof beerdigt, aber das Grab ist verschollen.

Das Museum beherbergt auch eine zweite Sammlung, die sein jüngster Sohn Wassilij 1947 fertigstellte: eine Schreinerei und eine Schlosserei. In dieser Komposition lehren Puppenspieler die Arbeiter, wie man auf den Maschinen Puppen fertigt. Wassilij hätte ein sehr talentierter Meister werden und in die Fußstapfen seines Vaters treten können, aber aufgrund einer schweren Verletzung (er verlor im Zweiten Weltkrieg beide Beine) starb er im selben Jahr.

Ein unschätzbarer Fund

In den Sechzigerjahren fanden Morosows Kinder eine Kiste mit Puppen im alten Haus, und das Theater kaufte die gesamte Sammlung für viel Geld. Inzwischen ist sie wohl unbezahlbar, obwohl viele Museen sie gerne kaufen würden. Die Puppen waren in perfektem Zustand, aber zerlegt, und es gab sogar zusätzliche Figuren.

„1980 haben wir versucht, die Sammlung zur WDNCh nach Moskau zu bringen, aber auf dem Weg dorthin zerbrach etwas, und in Uljanowsk musste die Sammlung ein zweites Mal repariert werden“, sagt Majsakowa. Heutzutage wird die Sammlung von zwei Ingenieuren betreut, und diese sagen, das Wichtigste sei, nichts zu bewegen.

Im Großen und Ganzen ist im vergangenen Jahrhundert mit den Puppen nichts passiert: Alles funktioniert und selbst die Kostüme und Farben der Gesichter sind nicht verblasst. Vielleicht leben sie wirklich? „Einmal war ich in der Werkstatt und hörte das Klopfen des Beils, obwohl ich wusste, dass alles ausgeschaltet war. Aber das Beil klopfte“, sagte der Sprecher des Museums. „Wie lässt sich das erklären?“

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