Kantemir Balagow tauchte 2017 in der russischen Filmindustrie förmlich aus dem Nichts auf, als sein Debütfilm Tesnota (Enge) unerwartet in das Festivalprogramm Un Certain Regard eben dieser Filmfestspiele in Cannes aufgenommen wurde. Damals kannte in Russland noch niemand den jungen Regisseur, einen Schüler des legendären Alexander Sokurows.
Tesnota gewann den FIPRESCI-Preis in Cannes und startete als Favorit bei Filmfestivals in Russland. Nach den Aufführungen in Balagows Heimat keimte auch gleich die Hoffnung auf ein neues russisches Kino auf: Sein kreativer Ansatz (eine Kombination aus fast dokumentarischem Realismus und komplexen Metaphern) ließ die technische Unvollkommenheiten des Films, die durch das äußert bescheidene Budget bedingt waren, vergessen.
Bei Beanpole (zu Deutsch Lulatsch) hatte Balagow keine finanziellen Schwierigkeiten mehr. In diesem Film offenbart der Regisseur mit frischer Kraft erneut sein unbestreitbares Talent, mitreißende menschliche Geschichten zu erzählen. Und dafür wurde er mit dem Preis in Cannes geehrt.
Beanpole erzählt die Geschichte von zwei Kriegsveteraninnen, die nach dem Ende der Blockade nach Leningrad zurückgekehrt sind. Kantemir Balagow wollte zunächst einen der Monologe aus dem Buch der Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch Der Krieg hat kein Frauengesicht verfilmen, ließ diese Idee dann aber zugunsten eines eigenständigen Drehbuchs fallen. Beanpole unterscheidet sich deutlich von den traditionellen russischen Kriegsfilmen der letzten Jahre. Und das nicht nur durch seinen Mangel an spritzigen Dialogen und Kampfszenen. In erster Linie zeigt der Film die sehr private und intime Geschichte von zwei Frauen, die versuchen, die innere Leere zu füllen – mit aller Gewalt und dabei sehr zielsicher.
Kantemir Balagow und Alexander Rodnjanskij
Jekaterina Tschesnokowa/SputnikProduziert wurde Beanpole von Alexander Rodnjanskij, der bisher alle Filme von Andrei Swjaginzew produziert hat, darunter auch jene, die zahlreiche internationale Auszeichnungen erhielten wie Jelena, Leviathan und Loveless. Rodnjanskijs Name ist mittlerweile eine Art Gütezeichen. In der Regel übernimmt dieser Produzent anspruchsvolle Kunstprojekte, die nicht nur für das russische Publikum von Interesse sind. Das neue Werk von Kantemir Balagow ist da keine Ausnahme.
Alexander Rodnjanskij, Wiktoria Miroschnitschenko, Wasilisa Perelygina, Kantemir Balagow
Bereits nach seinem Debüt Tesnota war klar, dass Balagow ein „Schauspieler“-Regisseur ist. Dank seinem ersten Film startete Darja Schowner, die dort eine Hauptrolle spielt, mit ihrer Filmkarriere durch.
Der junge Regisseur sucht sich talentierte, aber unbekannte Schauspieler. In Beanpole bahnte er der 25-jährigen Wiktoria Miroschnitschenko und der 23-jährigen Wasilisa Perelygina, die bisher noch nicht in einem großen Film mitgewirkt hatten, den Weg.
In den Filmkritiken wird darüber fast nichts geschrieben, doch die zurückhaltende und zugleich malerische Arbeit des Kameramanns ist eine der starken Seiten von Beanpole – sie ist voller visueller Reminiszenzen an die Meisterwerke der europäischen Malerei. Xenia Sereda ist zweifellos eine der talentiertesten Kameraleute Russlands.
Wie auch das restliche Filmteam ist Xenia mit ihren gerade einmal 24 Jahren noch sehr jung. Sie kann allerdings bereits auf sechs Jahre Berufserfahrung zurückblicken und hat sich in dieser Zeit zu einer echten Meisterin entwickelt. Im vergangenen Jahr arbeitete sie an Acid von Alexander Gortschilin, einem weiteren Debütfilm mit interessanter visueller Stilistik. Aber Beanpole bringt Sereda zweifellos auf eine ganz neue Ebene.
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