Wadim Sidur: Der erste sowjetische Künstler, der mit Abfall gearbeitet hat

Kultur
ALEXANDRA GUSEWA
Wadim Sidurs Kunst war zu gewagt, zu abstrakt, zu wenig heroisch für die Sowjetunion. In Deutschland stehen einige seiner Skulpturen. In Russland ist er kaum bekannt.

Die berühmteste Skulptur von Wadim Sidur (1924-1986) heißt „Der Verwundete”. Das war es, was auch er war, verwundet, ein Invalide des Zweiten Weltkriegs. Er war 18 Jahre alt, als er an die Front ging. Im Jahr 1944 zerschmetterte die Kugel eines deutschen Scharfschützen sein Kinn. Sein Gesicht blieb dauerhaft deformiert. Den Krieg überlebte er zwar, doch die Schrecken des Krieges waren buchstäblich in seinem Gesicht eingebrannt. Er trug zeitlebens einen Bart, um seine Verletzung zu kaschieren. 

Sidur versuchte, seine furchtbaren Erinnerungen in seinen Kunstwerken zu verarbeiten. Das Thema Invalidität und Leid ist omnipräsent in seinen Skulpturen, Grafiken und Keramiktellern.

Sidurs Invaliden haben keine Arme und keine Beine. Dennoch umarmen sie ihre Lieben und tanzen.

Frieden und Schöpfung waren Sidurs Sehnsucht, was sich in den in seiner Kunst stets wiederkehrenden Themen Liebe, Geburt und Weiblichkeit zeigt, die einen Kontrapunkt gegen den zerstörerischen Krieg setzen. Gelegentlich haben Sidurs Werke, vor allem die grafischen, eine strak erotische Ausstrahlung. 

Der Bildhauer widmete sein halbes Leben der Darstellung von Kriegstoten und Verwundeten. Alle seine Skulpturen sind von tiefer Trauer erfüllt. Einige Werke stehen auch in Deutschland. Seine Popularität dort verdankt er vor allem dem slawischen gelehrten Karl Eimermacher, der Sidurs Kunst bewunderte. Er war es, der seine erste Ausstellung im Ausland organisierte. 

„Hunderte, Tausende, Millionen Menschen starben durch Gewalt. Kugeln, Galgen, Bomben, Gaskammern, Konzentrationslager, Folter, die Todesstrafe - die Liste ist endlos. Man sollte meinen, dies würde eines Tages aufhören. Doch der Mensch ist ohne Vernunft, er ist unfähig, zu lernen”, sagte der Künstler in einem Gespräch mit Eimermacher.

In der Sowjetunion stieß Sidur auf Unverständnis. Der damalige sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow zeigte sich 1962 auf einer Ausstellung zeitgenössischer Kunst in Moskau äußerst unzufrieden. Damit machte er klar, dass abstrakte Kunst unerwünscht war. Gemälde und Skulpturen sollten verständlich und patriotisch sein.

Solche Kunst wurde in der Heimat nicht geschätzt. Seine Skulpturen waren nicht nur zu avantgardistisch, sie waren zudem nicht heroisch genug. Sie zeigten menschliches Leid und Schwäche, keine Heldentaten. Seine Popularität im Ausland verschlimmerte die Lage. Sidur zog bald die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden auf sich. Ihm drohte der Ausschluss aus der Union der Künstler der UdSSR.

Für einen sowjetischen Bildhauer hätte dies zur damaligen Zeit den Verlust seiner Werkstatt bedeutet. Er hätte nicht mehr arbeiten können. Sidur ging in den Untergrund und verdiente seinen Lebensunterhalt mit der Gestaltung von Grabsteinen. Dennoch beschäftigte er sich weiter mit Menschen und ihren Schicksalen. 

In den 1970er Jahren begann er, durch die Wälder zu streifen und dort Müll aufzusammeln, vor allem Metall. Er sagte, er würde am liebsten die Wälder roden, um sie vor den rücksichtslosen Menschen zu schützen. Den Müll nutzte er bald bei der Gestaltung seiner Werke. „Wenn ich in einem Wald spazieren gehe, kann ich nicht [an Müll] vorbeigehen. Hier habe ich viele Objekte gefunden, durch die ich später meine Haltung gegenüber der Welt zum Ausdruck gebracht habe.” Sidur selbst beschrieb das Genre seiner Werke als Grob-Art.

Erst nach der Perestroika wurden Sidurs Skulpturen in Russland öffentlich gezeigt. Nach seinem Tod wurde 1991 bei St. Petersburg eine Skulptur für die im Zweiten Weltkrieg ermordeten Juden aufgestellt, im Jahr 1992 in der Nähe des Sidur-Museums in Moskau ein Denkmal für die sowjetischen Soldaten, die im Afghanistankrieg gefallen sind. Es heißt „Die Unbestatteten”. Die Moskowiter nennen es „Die trauernden Mütter”. Zu sehen sind drei Frauen, die sich in untröstlichem Schmerz über die Gräber ihrer Kinder beugen, die sie niemals wiedersehen werden. 

Sidur gehörte keiner künstlerischen Bewegung an. Er war kein sozialistischer Realist und nahm an keinen kollektiven Ausstellungen inoffizieller sowjetischer Kunst teil. Er suchte nach seinem eigenen Weg und seiner eigenen Sprache und nannte sich „einen Außerirdischen von einem anderen Planeten“.

In diesem Jahr feiert das Sidur-Museum in Moskau sein 30-jähriges Jubiläum (rus)

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