Wir Russen tragen eine enorme Last, nämlich die zweier bärtiger Männer, die auf unseren Schultern sitzen. Leo Tolstoi links, Dostojewski rechts oder umgekehrt. Ihr literarisches Erbe wiegt schwer. Sie begleiten uns ein Leben lang, bis ins Grab. Dies gilt zumindest kulturell. Jedes Mal, wenn wir mit einem Ausländer ins Gespräch kommen, der schon einmal etwas von russischer Literatur gehört hat, heißt es nach wenigen Augenblicken: „Oh, Dostojewski und Tolstoi…”
Ja, diese beiden sind zweifelsohne Genies. Doch traurig ist, dass sie dem globalen Publikum durch ihre Tiefe und den Umfang ihrer Werke den Blick auf andere talentierte russische Literaten verstellen. Ich kenne mindestens einen Autor, der meiner Meinung nach „Tolstojewski“ übertrifft. Anton Tschechow ist der Name des Kerls. Ich werde Ihnen fünf Gründe nennen, warum er besser ist.
Anton Tschechow und Leo Tolstoi auf der Krim
SputnikIch weiß, dass die Länge eines Buches ein seltsames Kriterium ist, um seine Qualität zu beurteilen. Doch wir Russen müssen in der Schule unsere goldenen Klassiker lesen, die Bücher, die man im Leben gelesen haben muss. Und wer sich einmal durch alle vier Bände von „Krieg und Frieden“ quälen musste, neben der Beschäftigung mit andere Unterrichtsfächern, der weiß Tschechows Mut zur Kürze zu schätzen, der Tolstoi und auch Dostojewski fehlte.
Tschechow ist ein Meister der Kurzgeschichte. Er skizziert kurz einige Details und beschreibt in wenigen witzigen Zeilen den Charakter und die Lebensgeschichte einer Figur. Tolstoi oder Dostojewski hätten sich über mindestens zehn Seiten dazu ausgelassen.
Porträt von Fjodor Dostojewski
Wassili PerowIn der russischen Literatur fehlt es sicherlich bei keinem Autor an Herzergreifendem. Doch Tschechow geht anders damit um. „Tolstojewskis“ Romanfiguren leiden, sie denken so viel nach über Gott, die Liebe, die russische Seele. Irgendwann ist das langweilig.
Tschechows Protagonisten sind dagegen keine Übermenschen, sondern ganz gewöhnliche Leute. Seine Charaktere wirken oft kleinlich, manchmal ein wenig lachhaft und gelangweilt. Sie träumen stets von einer besseren Welt, doch stecken in ihrem Dasein fest. Jeder von uns könnte einer von Tschechows Helden sein, doch die von Tolstoi oder Dostojewski sind für uns unerreichbar, es sei denn, jemand hat eine alte Dame mit einer Axt getötet oder erfolgreich gegen Napoleon gekämpft.
Tschechows gesamtes emotionales Spektrum lässt sich am besten mit einem ironischen Zitat erklären: „So ein schöner Tag heute. Ich weiß nicht, ob ich eine Tasse Tee trinken oder mich erhängen soll.“ Klingt doch ganz normal, oder?
Sowohl Dostojewski als auch Tolstoi hatten ihre Wertvorstellungen, die sie den Lesern gerne einhämmerten: radikales orthodoxes Christentum, das in Dostojewskis Fall zudem mit konservativem Monarchismus gewürzt war, oder ein friedlicher Anarchismus à la Ghandi wie bei Tolstoi (obwohl es eigentlich Tolstoi war, der Ghandi beeinflusst hat).
Einer meiner Freunde sagte: „Wenn ich Tolstoi lese, dann fühle ich mich belehrt. Er hat zwar Recht, aber es ist ärgerlich.“ Das passiert bei Tschechow nicht. Er predigt nichts, außer Würde, Geduld und Humor zu bewahren.
Einerseits hat Tschechow das Leben in vollen Zügen genossen, manchmal auf verantwortungslose Weise. So schrieb er einst: „In St. Petersburg habe ich so viel getrunken, dass Russland stolz auf mich sein muss!“ Auf der anderen Seite war er ein unermüdlicher Arbeiter, neben der Literatur übte er auch seinen eigentlichen Beruf als Arzt aus. Er versuchte, allen in seinem Umfeld zu helfen, von seinen Eltern, Geschwistern und zahlreichen Freunden bis zu einheimischen Bauern, die er kostenlos behandelte.
1890 besuchte er die abgelegene Gefängnisinsel Sachalin, wo er an einer Volkszählung mitwirkte und anschließend ein Sachbuch über die unmenschliche Behandlung der dorthin Verbannten verfasste.
Er starb im Alter von 44 Jahren an Tuberkulose, an der er seit seinen Zwanzigern litt. Obwohl er wusste, dass sein Tod unausweichlich war, bewahrte er bis zum letzten Atemzug seine Würde und seinen Humor.
Anton Tschechow und Olga Knipper
Last but not least - Tschechow ist international am bekanntesten für sein Theatererbe und zusammen mit William Shakespeare einer der am häufigsten inszenierten Dramatiker. Seine Meisterwerke wie „Die Möwe“, „Der Kirschgarten“, und „Drei Schwestern“ sind zeitlos und immer wieder neu interpretierbar.
Konstantin Stanislawski, ein berühmter russischer Regisseur, der mit Tschechow zusammengearbeitet hat, sagte: „Bei Tschechow steht das Wichtige oft zwischen den Zeilen.“ Richtig - und meiner Meinung nach ist es viel besser, etwas der Vorstellung zu überlassen, als es dem Publikum vorzuschreiben.
Stets scheint ein Licht der Hoffnung durch das Unausgesprochene. Dieser Optimismus, gewürzt mit Humor und ein wenig gesundem Zynismus, zieht sich durch alle Werke Tschechows, was ihn, meiner Meinung nach, zum besten russischen Schriftsteller macht.
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!