Heutige Modeblogger und Designer würden die Kossoworotka als unverzichtbares Teil in jedem Kleiderschrank beschreiben. Es ist ein Kleidungsstück für jeden Tag, das immer anders kombiniert oder mit Accessoires gestylt werden kann.
Was viele nicht wissen, ist, dass die Kossoworotka vom 15. bis zum frühen 20. Jahrhundert ein Bauernhemd war. Sie wurde unter der restlichen, meist sehr einfachen, Kleidung getragen.
Wie sieht die Kossoworotka aus?
Die Kossoworotka ist ein langärmeliges Hemd. Die Bauern trugen normalerweise einfache weiße Leinenhemden. Sie wurden immer über der Hose getragen. Als Gürtel diente eine Kordel. Es gab Kossoworotkas für den Alltag und für festliche Anlässe, wobei letztere normalerweise einen gestickten Kragen hatten. Für einen noch eleganteren Look konnte die Kordel durch einen schönen Gürtel oder eine Kordel mit Quasten ersetzt werden.
Im Sommer wurde eine Kossoworotka ohne Überkleidung oder mit einer Weste getragen. Im Winter wurde sie unter einem Kaftan angezogen. Wohlhabende Menschen leisteten sich Kossoworotkas für besondere Anlässe, die aus teuren Stoffen wie Seide oder Satin hergestellt wurden.
Frauen trugen ihre Kossoworotka oft bodenlang. Saum und Ärmel schauten unter ihrem Sarafan hervor, den man darüber trug. Die Bäuerinnen hatten verschiedene Hemden für verschiedene Anlässe. Es gab außerdem unterschiedliche Kossoworotkas für unverheiratete Mädchen, für Bräute sowie für verheiratete Frauen. Auch für Feiertage und Beerdigungen existierten verschiedene Hemden mit aufwendig bestickten Manschetten und Kragen. Die Stickmuster hatten eine besondere symbolische Bedeutung.
Sogar Babys trugen Kossoworotkas. Aus den abgetragenen Hemden der Eltern wurden Windeln genäht.
Woher stammt das Wort „Kossoworotka“?
Kosoi worot (косой ворот) bedeutet zu Deutsch „schräger Kragen“. In der Tat befindet sich der Ausschnitt der Kossoworotka nicht mittig sondern seitlich, meist auf der linken Seite. Laut dem Kulturwissenschaftler Dmitry Lichatschow war der Grund dafür eher praktischer als ästhetischer Natur: Auf diese Weise würden die Kreuzanhänger, die Bauern unter ihren Hemden trugen, nicht herausfallen, wenn sie sich während ihrer Arbeit vorbeugen mussten.
Nach der bolschewistischen Revolution wurden keine Kreuze mehr getragen, es war sogar verpönt. Die Kossoworotka verlor als praktisches Kleidungsstück an Relevanz.
Vom Bauernhemd zur Soldatenuniform
Die Kossoworotka wurde das Vorbild für ein anderes sehr beliebtes Hemd, die Gymnastjorka, ein hüftlanges Militärhemd. 1880 erhielten die Soldaten in Turkestan im heißen Sommer Gymnastjorkas als Sportbekleidung. Später wurden die Hemden durch Schultergurte ergänzt. Das Uniformhemd war sehr verbreitet im Ersten Weltkrieg und während der Revolution und des Bürgerkriegs in Russland.
Gymnastjorkas wurden von Kosaken, Kavalleristen und im Süden dienenden Truppen mit Schultergurt getragen. Der Ausschnitt lag bei den Soldatenhemden jedoch anders als bei der klassischen Kossoworotka mittig.
Tolstoi und andere Liebhaber der Kossoworotka
Russische Aristokraten und Adlige trugen im 18.-19. Jahrhundert keine Kossoworotkas, sondern stattdessen kragenlose Hemden als Unterwäsche. Vielleicht war die einzige Ausnahme Graf Leo Tolstoi, der seine Nähe zum einfachen Volk betonen wollte. Auf seinem Anwesen in Jasnaja Poljana trug er bevorzugt eine Tunika mit mittigem Ausschnitt. Im Englischen wird eine Kossoworotka oft als „russisches Bauernhemd“ oder „Tolstoi-Hemd“ übersetzt.
In späteren Jahren wurden lange, lose Hemden mit Taschen, wie sie von Tolstoi getragen wurden, Tolstowkas genannt. Seitdem hat sich die Bedeutung dieses Wortes in Russland jedoch geändert und heutzutage bezeichnet eine Tolstowka ein Sweatshirt oder einen Kapuzenpullover.
Übrigens trug auch der Dichter Sergei Jessenin Kossoworotkas, um sich als Bauer zu inszenieren, um die Literaturszene in der Hauptstadt zu beeindrucken.
Der Hollywood-Klassiker „Doktor Schiwago“ wird in Russland immer noch wegen seiner Russland-Stereotype kritisiert. Zum Beispiel trägt Schiwago, gespielt von Omar Sharif, eine Kossoworotka, die zur Zeit des Bürgerkriegs in Russland nicht mehr oft getragen wurde.