Zu Beginn des 20. Jahrhunderts organisierte der Impresario Sergei Djagilew regelmäßige Tourneen russischer Künstler ins Ausland. Die ersten Aufführungen fanden zwischen 1907 und 1908 in Paris unter dem Titel „Saisons Russes“ (zu Deutsch „Russische Saisons“) statt und umfassten die Opern „Boris Godunow“, „Fürst Igor“, „Die Magd von Pskow“ und „Ruslan und Ludmila“. Im Jahr 1909 nahm Djagilew auch ein Ballettprogramm in die „Saisons Russes“ auf, in dem die Tänzer des Mariinsky- und des Bolschoi-Theaters die Hauptrolle spielten.
Im folgenden Jahr beschloss er, nur noch Ballettaufführungen zu zeigen. 1911 gründete der Impresario die Kompanie „Ballet Russes“ mit Sitz in Monte Carlo.
Djagilews größter Verdienst ist es, die talentiertesten Künstler ihrer Zeit zusammengebracht und weltbekannt gemacht zu haben. Zu seiner Truppe gehörten die berühmtesten Tänzer des kaiserlichen Russlands: Anna Pawlowa, Tamara Karsawina, Vaslav Nijinsky und Jekaterina Geltzer. Michael Fokine begleitete das Ensemble als Choreograf. Die Kostüme wurden von Léon Baskt und Alexandre Benois entworfen. Komponist der frühen Programme war Igor Strawinsky.
Die Saison 1909 wurde im Pariser Théâtre du Châtelet mit fünf von Fokine choreografierten Aufführungen eröffnet: „Der Pavillon der Armide“ mit Pawlowa und Nijinskiy, „Polowetzer Tänze“ (eine Szene aus „Fürst Igor“), die Suite „Le Festin“ („Das Fest)“ und die Ballette „Les Sylphides“ und „Kleopatra“. Alle Premieren wurden vom Publikum begeistert aufgenommen und das „Ballets Russes“ erlangte international Ruhm.
Die Spielzeiten 1910 und 1911 fanden auch in Berlin und Brüssel statt. Es begann mit Fokines neuen Balletten: „Carnaval“, die der Maestro als sein bestes Werk betrachtete, „Der Feuervogel“ mit Tamara Karsawina, „Scheherazade“, „Giselle“ und „Les Orientales“ (Tänze aus verschiedenen Balletten).
1912 begann Sergei Djagilew mit den französischen Komponisten Joseph Maurice Ravel, Reynaldo Hahn, Achille-Claude Debussy und Jean Cocteau zusammenzuarbeiten und verwandelte das klassische Ballett in experimentellen Tanz. Zu diesen Arbeiten gehörten „Der blaue Gott“ (ein Ballett mit indischem Thema), „Nachmittag eines Fauns“, choreographiert von Nijinsky, und „Daphnis und Chloe“ von Ravel, eine choreografische Symphonie.
Eine der extravagantesten Ballettshows war 1917 die von Cocteau inszenierte „Parade“, für die der Künstler Pablo Picasso Kulissen und Kostüme entworfen hatte. Das Hauptthema des Balletts war eine Parade von Zirkusartisten, die versuchten, ein Publikum für ihre Aufführung zu gewinnen. Die Musik wurde begleitet von den Klängen einer Schreibmaschine, einer Hupe und Flaschenklirren. Beim Pariser Publikum fiel das Stück durch und auch die Kritiken waren vernichtend. Zwei Jahre später wurde die „Parade“ erneut in London aufgeführt und erlebte einen großen Triumph. Von da an verwendeten viele Komponisten nichtmusikalische Klänge in ihren Werken.
Während des Ersten Weltkriegs trat das „Ballet Russes“ mit Ausnahme einiger Wohltätigkeitskonzerte zugunsten des Roten Kreuzes fast gar nicht in Europa auf, da Nijinsky in Österreich in Gefangenschaft war und Fokine und Karsawina Russland nicht verlassen konnten. 1916 lud Djagilew die neuen Tänzer Vera Nemtschinowa, Lydia Sokolowa und Leon Wojciechowski ein, sich der Truppe anzuschließen, und unternahm eine große Tournee durch die USA und Südamerika. 1919 wurde die Tour in Großbritannien fortgesetzt.
Im September 1917 tanzte Nijinsky zum letzten Mal im Ballett „Der Geist der Rose“, verabschiedete sich dann von der Bühne und zog mit seiner Frau in die Schweiz.
Die Proben in Monte Carlo wurden erst Anfang der 1920er Jahre wieder aufgenommen. Der zukünftige Ballettstar Serge Lifar trat der Truppe bei, während Nijinskys Schwester Bronislawa Choreografin wurde.
Eine der letzten Premieren des „Ballet Russes“ wurde das neoklassische Ballett „Apollon-Musagète“, das 1928 von Igor Strawinsky geschrieben und vom jungen George Balanchine inszeniert wurde. Die Kostüme entwarf Coco Chanel, die eine Förderin Djagilews war. Sie bezahlte auch seine Beerdigung im August 1929.
Nach Djagilews Tod übernahm die Tänzerin Léonide Massine die Kompanie „Ballets Russes de Monte-Carlo“, die weltweit weiter auftrat. Serge Lifar leitete das Ballett an der Grand Opéra in Frankreich, während Balanchine in die USA ging, wo er als „Vater des amerikanischen Balletts“ bekannt wurde.
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