Wie ist das Leben in einer Stadt, in der jeder achte Einwohner Künstler ist?

Legion Media; Maria Sibirjakowa/Sputnik
Die Altstadt von Palech ist für ihre Lackminiaturen und die einzigartige Ikonenmalerei in der ganzen Welt bekannt.

„Eines Tages fragte mich auf der Straße jemand, was ich beruflich mache", erinnert sich Valentina Andrijaschkina. „Ich erzählte ihm, dass ich Künstlerin sei. Er schaute überrascht: ‚Stellen Sie sich vor, Sie sind nicht die erste Person, die ich hier getroffen habe, die mir sagt, sie sei Künstlerin‘. Nun, hier ist tatsächlich jeder ein Künstler!"

Die Stadt Palech in der Region Iwanowo ist ein perfektes Beispiel für das provinzielle Russland, wie es sich Ausländer vorstellen: jahrhundertealte Blockhäuser, schläfrige Katzen auf den Fenstersimsen, Babuschkas auf Fahrrädern und alte orthodoxe Kirchen. Hier gibt es keine Street-Food-Stände oder Werbung, die die Fassaden ruinieren. In jeder Straße entdeckt man ein Schild mit der Aufschrift „Werkstatt“ oder „Museum“. Der häufigste Beruf in Palech ist der des Künstlers. In der Siedlung mit 4.600 Einwohnern verdienen mehr als 600 Bewohner ihren Lebensunterhalt als Künstler.

Von Ikonen zu Lackschatullen

Jahrhundert war Palech als Zentrum der Ikonenmalerei mit einzigartigem Stil bekannt. Dieser zeichnete sich durch extreme Detailtreue und beeindruckende Präzision aus. Selbst Miniatur-Gebetsikonen zeigten nicht nur naturgetreue Landschaften, sondern auch in den Gesichtern der dargestellten Figuren waren Emotionen zu erkennen. In den ersten Jahren der sowjetischen Herrschaft, als die Kirche unter Druck geriet, fertigten die lokalen Handwerker in ihrem unverwechselbaren Stil weltliches Kunsthandwerk und bewahrten so die Geheimnisse ihrer alten künstlerischen Tradition.

Die ersten weltlichen Miniaturen schuf der Künstler Iwan Golikow, der aus mehreren Generationen von Palech-Ikonenmalern stammte. In den 1920er Jahren schuf er die ersten im Palech-Stil bemalten Lackschachteln und schenkte sie einem lokalen Museum. Bald entstand um ihn herum eine Künstlergruppe.

Seit 1926 gibt es in Palech eine Kunstschule, die Bewerber aus dem ganzen Land aufnimmt, die hierherkommen, um zu studieren und oft für immer in Palech bleiben. „Mein Traum war es, im Palech-Stil zu malen, und ein Besuch im Museum hat meinen Wunsch bestätigt“, so Jelena Nowikowa-Schanizyna, die 1991 aus Uchta hierhergezogen ist. „Als ich mich für die Kunstschule bewarb, gab es einen harten Wettbewerb um die Plätze, und ich hatte mich mehrere Jahre darauf vorbereitet." Jelena sagt, dass sie sich bei der Herstellung der filigranen Schatullen oder Broschen wie eine Juwelierin fühlt.

Jeder Künstler ist auf ein anderes Thema spezialisiert. Es gibt sogar Miniaturmaler, deren Spezialgebiet die Weltraumforschung ist!

Kreatives Gebiet

Eine Lackschachte ist kostspielig (die Preise beginnen bei 6.000-7.000 Rubel/ etwa 70 bis 80 Euro). Der Künstler selbst verdient wenig daran. Die Fertigung nimmt mindestens eine Woche, häufiger einen ganzen Monat in Anspruch. Deshalb gründen junge Absolventen, die schnelles Geld verdienen, Brigaden und reisen durch das ganze Land, um Kirchen zu bemalen. „Jede Brigade hat einen individuellen Stil, obwohl man glauben könnte, dass in der kanonischen Malerei kein Platz für künstlerische Selbstverwirklichung sei“, sagt Valentina. Sie selbst arbeitet am liebsten im traditionellen Lackierhandwerk und bemalt Schatullen auf Bestellung. Ihr Mann Roman hat zehn Jahre Erfahrung in der Palech-Malerei und ist auf die Restaurierung von Kirchenmalerei umgestiegen. Seine Werkstatt befindet sich in Moskau, von wo die meisten Aufträge kommen, daher pendelt er zwischen den beiden Standorten.

„Nachdem wir viele Jahre nur mit Miniaturen gearbeitet hatten, mussten wir in Palech die Ikonenmalerei neu erlernen. Wir waren mittendrin in dieser Zeit, als wir Mitte der 1990er Jahre unsere Studien abschlossen und die Ikonenmalerei wieder auflebte. Das führte zur Gründung von Tischlerwerkstätten und dem Aufkommen von Holzschnitzern", erinnern sich Roman und Valentina.

Marina Galkina kam aus Obninsk bei Moskau nach Palech, ihr Mann aus Sysran. Das Paar hat in Palech eine eigene Werkstatt. „Ich wollte am Surikow-Institut in Moskau (eines der führenden Kunstinstitute in Russland) studieren, aber meine Mutter las in einer Zeitschrift über Palech und beschloss, dass es besser für mich wäre, hier zu studieren", sagt Marina.

Wie die Künstler selbst sagen, ist Palech ein Sammelbecken für Kreative, das eine Vielzahl von Menschen vereint. Obwohl es hier keine Stipendien oder Anreize für Künstler gibt, bleiben viele, um hier zu leben. „Es liegt wahrscheinlich an der Atmosphäre", meint Marina. „Hier haben schon immer sehr viele Künstler gelebt, aber niemand hat jemals den Stil eines anderen kopiert, sondern jeder hat versucht, seine eigene Note einzubringen.“

Eine Monostadt

Die Palech-Künstler Anatoli Wyazko und Juri Fedorow gründeten ihre Werkstatt, die Ikonostasen herstellt, 1996. Anfangs beschäftigten sie nur sechs Personen, während sie jetzt über 150 Mitarbeiter haben und projektbezogen noch zusätzliche Handwerker einstellen Die Werkstatt, die sich „Palech Iconostasis“ nennt, erhält Aufträge nicht nur aus Russland, sondern auch aus dem Ausland: Großbritannien und, Deutschland.

Die Herstellung einer Ikonostase kann von ein paar Wochen bis zu fünf oder sechs Jahren dauern. Im Durchschnitt dauert es ein Jahr. Die Preise beginnen bei 150.000 Rubel (etwa 1700 Euro) pro Quadratmeter. Zum Einsatz kommen neben der Handarbeit auch Maschinen.

Das Bemalen der Ikonen und die Vergoldung einzelner Elemente ist eine sehr filigrane Tätigkeit, die oft von jungen Frauen erledigt wird. „Wir haben hier eine Arbeitsteilung, jeder macht das, was er am besten kann“, sagt eine der Kunsthandwerkerinnen. „Ich male zum Beispiel goldene Buchstaben auf die Ikonen."

Wie Roman arbeitete auch Anatoli zunächst mit Lackminiaturen, aber dann sah er Potenzial in der Arbeit an Kirchendekoration. Er sagt, dass er selbst in den Jahren der Wirtschaftskrise nicht die Absicht hatte, Palech zu verlassen. „In Palech leben so viele Künstler. Man schaut sich gegenseitig zu und kann seine Werke öffentlich zeigen. Nur hier kann Entwicklung sein. Es ist das künstlerische Zentrum der Welt.“ Seine Tochter ist bereits in seine Fußstapfen getreten.  

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