Semen Nalimow: Der russische Stradivari

Kira Lisitskaja (Foto: Public Domain; St.Petersburg State Museum of Theatre and Music)
Ein armer, ungebildeter Handwerker schuf die perfekte Balalaika aus dem Holz von Fenstern und Türen.

Im Jahr 1900 fand in der französischen Hauptstadt die Pariser Weltausstellung statt, auf der die technischen und künstlerischen Errungenschaften der vergangenen Jahrhunderte gefeiert wurden. Als neuer Verbündeter Frankreichs war Russland einer der Teilnehmer. 

Der russische Pavillon überraschte die Pariser unter anderem mit einem Auftritt des Großen Russischen Orchesters, in dem ein kaum bekanntes volkstümliches Musikinstrument namens Balalaika gespielt wurde. Der Leiter des Orchesters, Wassili Andrejew, erhielt hochrangige Auszeichnungen. Das Instrument, das viele Menschen das erste Mal gesehen hatten, war von einem begabten Schreiner ohne formale Ausbildung namens Semen Nalimow erschaffen worden. In den folgenden Jahrhunderten wurden Nalimows Instrumente von Sammlern auf der ganzen Welt begehrt.

Ein unglücklicher Zufall wurde zum Glückfall

Semen Nalimow war ein armer, aber sehr talentierter Mann. „Analphabet, aber er beherrscht das Tischlerhandwerk", so wurde Nalimow von seinen Vorgesetzten beschrieben, nachdem er 1884 aus dem Militär entlassen worden war.

Region Twer. Semen Nalimow.

Um über die Runden zu kommen, machte sich Nalimow von seinem Heimatdorf im Gouvernement Wologda auf der Suche nach Arbeit auf den Weg nach St. Petersburg. Während seiner Reise in die russische Hauptstadt wurde er ausgeraubt und hatte nun kein Geld mehr, um seine Reise fortzusetzen. Er verließ den Zug in der Region Twer und ließ sich dort nieder, um mit Gelegenheitsarbeiten als Zimmermann seinen Lebensunterhalt zu verdienen. 

Der Traum des Mäzens

Zum Glück für den Handwerker fiel sein Aufenthalt in der Region Twer mit dem leidenschaftlichen Bestreben eines Sprosses einer örtlichen Kaufmannsfamilie zusammen, die Balalaika als Musikinstrument zu popularisieren. 

Einige Jahre bevor Nalimow gegen seinen Willen in der Region Twer landete, war Wassili  Andrejew bereits vom Klang der Balalaika in den Bann gezogen worden.

Wassili Andrejew, die 1880er Jahre.

„Es war ein ruhiger Nachmittag im Juni. Ich saß auf der Terrasse meines Dorfhauses. Plötzlich hörte ich mir unbekannte Klänge. Ich konnte deutlich erkennen, dass ein Saiteninstrument gespielt wurde. Die Töne wurden immer heller, die Melodie floss voller Rhythmus und drängte unaufhaltsam zum Tanzen. Eine Arbeiterin ging mit Wassereimern auf den Schultern über den Hof. Ich bemerkte, wie die schweren Eimer schwankten und sich das Wasser aus ihnen ergoss, und die Beine der Bäuerin begannen, im Takt der Musik noch schnellere Figuren zu machen. Ich spürte, dass meine Beine dasselbe versuchten. Ich machte mich auf und rannte zum jenen Fensterflügel, wo die Geräusche herkamen. Einer meiner Arbeiter saß auf der Treppe und spielte Balalaika! Ich war erstaunt über den Rhythmus und die Originalität der Spieltechnik und konnte nicht begreifen, wie ein so einfach aussehendes Instrument mit nur drei Saiten so viele Töne erzeugen konnte", schrieb Andrejew über seine erste Begegnung mit dem volkstümlichen Instrument im Jahr 1883.

In dem Bestreben, die Balalaika zu einem Instrument zu machen, das in der gehobenen Gesellschaft von St. Petersburg und vielleicht auch in anderen europäischen Hauptstädten Anerkennung finden würde, stellte Andrejew ein Orchester zusammen und machte sich auf die Suche nach einem begabten Meister, der in der Lage sein würde, qualitativ hochwertige Balalaikas herzustellen. 

Aus Türen und Fenstern gefertigt

Andrejew ging nach St. Petersburg, stieß dort aber auf die Ablehnung der anerkannten Instrumentenbauer jener Zeit. Sie weigerten sich, Balalaikas zu bauen. Sie empfanden dies als unter ihrer Würde. Andrejew hörte von einem begabten Handwerker, der in der Umgebung Gelegenheitsarbeiten annahm und sich mit Holz auskannte. 

Semen Nalimov mit seiner Frau (v.l) und seiner Schwester. Ein traditionelles Volksinstrument, Balalaika (v.r).

Andrejew und Nalimow lernten sich in den frühen 1890er Jahren kennen. Eine örtliche Legende besagt, dass Nalimow, als er mit dem Bau des Instruments beauftragt wurde, auf Andrejews Anwesen herumlief und an hölzerne Fensterrahmen und Türen klopfte, um den besten Klang herauszufinden und das beste Material für die Herstellung einer großartigen  Balalaika zu finden. Schließlich teilte Nalimow dem Gutsbesitzer mit, dass er das richtige Material gefunden hatte: Die Fensterrahmen und Türen des Guts waren aus erstklassigem Bergahorn gefertigt. Der Handwerker war der Meinung, dass es sich um das perfekte Material handeln würde. Andrejew ließ die Fensterrahmen und Türen ausbauen und in die Werkstatt von Nalimow bringen. Während dieser an dem Instrument arbeitete, blieb Andrejews Haus fenster- und türlos, so besagt es die Legende.

Ausgestattet mit den besten Materialien gelang es Nalimow schließlich, eine perfekte Balalaika zu bauen, die anders klang als jedes andere Volksinstrument, das Andrejew je gehört hatte. 

„Es gibt bereits eine bestimmte Harmonie [in Nalimows Instrument]. In diesem Sinne ist Nalimow näher an Stradivari. Es ist sehr konzentriert und strukturiert und daher ziemlich komplex. Die Tiefe kommt nicht vom Interpreten, sondern vom Instrument selbst", sagte der russische Komponist und Balalaika-Virtuose Alexei Archipowski. 

In der Tat gelten die Instrumente von Nalimow heute als sehr wertvoll und sind unter Sammlern weltweit begehrt. „Es gibt eine inoffizielle Inventarliste von Nalimows Instrumenten. Sie wurde von Enthusiasten erstellt. Es handelt sich um etwa 125 Instrumente, aber ein Teil davon befindet sich im Ausland“, so Andrej Gorbatschow, Leiter der Abteilung für volkstümliche Streichinstrumente an der Russischen Musikakademie Gnessin. 

Semen Nalimow.

Semen Nalimow starb 1916 im Alter von 59 Jahren und hinterließ ein umfangreiches Erbe. Er hatte etwa 300 Instrumente gebaut, darunter Balalaikas, Dombras und andere. Er besaß zu Recht den Namen „Stradivari der Balalaikas" und hat zusammen mit seinem ergebenen Arbeitgeber Wassili Andrejew das Volksinstrument unsterblich gemacht.

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