Die Stadt Kitesch von Konstantin Gorbatow, 1913.
Public DomainDie Legende:
Diese heilige Stadt kann von Menschen nicht gesehen werden. Nur bei ruhigem Wetter vermag es ein Mensch mit reiner Seele und reinem Geist, das Läuten der Glocken und den Gesang der Menschen unter Oberfläche des Swetlojar-Sees in der Region Nischni Nowgorod zu hören.
Die Legende von Kitesch besagt, dass die Stadt im 12. Jahrhundert vom Heiligen Fürsten Juri (Georgi) II. von Wladimir erbaut wurde. „Mit Mauern aus weißem Stein, Kirchen mit goldenen Kuppeln, heiligen Klöstern, fürstlich gestalteten Teremen (den separaten Quartieren für adlige Frauen), Steinkammern der Bojaren und Häusern, die aus uralten, nicht verrottenden Kiefern gezimmert wurden“, schrieb Pawel Melnikow-Petscherskij, russischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts.
Als Batu Khan in die mittelalterliche Rus einfiel, so heißt es weiter, wollte er Kitesch einnehmen, „die Stadt niederbrennen, ihre Männer töten und versklaven und ihre Frauen und Töchter als Konkubinen nehmen“. Als Batus Armee Kitesch erreichte, hatte die Stadt keine Verteidigungsanlagen, nicht einmal Stadtmauern. Aber die Bürger beteten von ganzem Herzen und das Wasser des Sees stieg und verbarg Kitesch vor dem Feind und der ganzen Welt. Seitdem können nur strenggläubige Christen das Spiegelbild der Stadt im Wasser des Swetlojar-Sees erkennen, die aufgrund der Legende auch als „russisches Atlantis“ bezeichnet wird.
Erläuterung:
Diese Legende ist nicht sehr alt – sie wurde wahrscheinlich im 17. Jahrhundert von Altgläubigen erfunden, die aus verschiedenen Regionen nach Swetlojar kamen, um den Verfolgungen durch die reformierten Behörden der Russisch-orthodoxen Kirche zu entgehen. In Swetlojar feierten die Dorfbewohner heidnische Feste, die die Altgläubigen als sündhaft und unheilig betrachteten. Daher schufen sie diese pathetische Legende von der heiligen Stadt Kitesch, die unter der Oberfläche des Sees ruht, um die Einwohner daran zu hindern, dort ihre heidnischen Rituale zu feiern.
Ein Bucheinband von Puschkins Märchen, illustriert von Iwan Bilibin, 1906.
Public DomainDie Legende:
Lukomorje bedeutet Rand der Welt und lässt sich grob mit geschwungene Uferlinie übersetzen. Der russische Sprachwissenschaftler und Ethnograf Fjodor Buslajew schrieb, Lukomorje sei ein heiliger Ort am Rande des Universums, wo der Weltenbaum oder die Achse der Welt steht. Seine Wurzeln liegen in der Unterwelt, seine Äste berühren den Himmel und die Götter steigen vom Baum herab und auf den Baum herauf.
Erläuterung:
Lukomorje wurde durch Alexander Puschkins hypnotisierende Anfangszeilen von Ruslan und Ljudmila äußerst populär. In frühen europäischen Karten wurde der Name Lukomorje dem Ob-Busen, einer großen Bucht des Arktischen Ozeans, zugeordnet. In russischen Chroniken und in der frühen russischen Literatur bezieht sich der Name Lukomorje jedoch auf südliche Gebiete in der Nähe des Asowschen und des Schwarzen Meeres – für die Russen des Mittelalters war dies tatsächlich der Rand der Welt.
Puschkins Märchen, illustriert von Ivan Bilibin.
Public DomainDie Legende:
Viele russische Volksmärchen beginnen mit „Vor langer Zeit, im drei-neunten Königreich, im drei-zehnten Staat...“. Dieser traditionelle Anfang bedeutet normalerweise einfach sehr weit weg. Wenn der Held eines Volksmärchens sehr weit reist, heißt es in den Erzählungen, dass er drei-neun Länder durchquert. Das drei-neunte Königreich war jedoch, wie der Volkskundler Wladimir Propp schrieb, das Jenseits der Slawen und gleichzeitig das Land des Überflusses.
Dort wachsen Äpfel der Jugend, gibt es Quellen mit lebendem und totem Wasser, leben mythische Schlangen und Vögel. Manchmal wird das Königreich unter der Erde verortet, aber es kann auch auf einem Berg oder unter Wasser liegen. Im drei-neunten Königreich kann der Held seine Reserven wieder auffüllen oder übernatürliche Kräfte erlangen. Das Königreich ist durch eine starke physische Barriere, zum Beispiel einen Abgrund, einen dunklen Wald oder ein grenzenloses Meer, von der Außenwelt getrennt.
Erläuterung:
Sprachwissenschaftler und Philologen glauben, dass die Idee des drei-neunten Königreichs aus dem slawischen Glauben an ein Leben nach dem Tod stammt, der den nordischen Mythen von Walhalla sehr nahe steht, dem Land, in dem Helden auf ewig leben, nachdem sie in einer Schlacht glorreich gefallen sind. Die Reise in das drei-neunte Königreich und die Rückkehr ins Leben, ausgestattet mit übernatürlichen Kräften, erinnert uns auch an den Mythos von Orpheus, der auf der Suche nach seiner Geliebten die Unterwelt besuchte.
Übrigens ist drei-neun keine slawische Zahl – die alte russische Mathematik verwendete andere Zahlen. Das drei-neunte Königreich ist, genau wie der drei-zehnten Staat, nur eine volkstümliche Wortschöpfung und bedeutet sehr weit weg.
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