In russischen Volksmärchen ist Baba Jagá eine alte Hexe, die in den Wäldern lebt. Ihre isbá (Holzhütte) steht auf Hühnerbeinen am Rande einer Wiese und ist dem Wald zugewandt. Um sie zu betreten, muss man rufen: „Liebe Hütte, bitte dreh dich mit dem Rücken zum Wald und mit der Vorderseite zu mir!“ Erst dann kann der Gast die Hütte betreten, in der Baba Jagá wohnt, mit ihrem „Knochenbein“ und einer Nase, die „in die Decke gewachsen“ ist.
Dieses mythische Wesen bietet dem Protagonisten des Märchens gewöhnlich einen Deal an oder verwandelt ihn, nachdem er in ihrem magischen Ofen gebadet hat. Baba Jagá erinnert an den Schwarzen Mann der deutschen Folklore, denn russische Eltern nutzten sie schon immer, um ihre Kinder zu erschrecken (Lesen Sie unseren Artikel zu diesem Thema!).
Warum wird sie Baba Jagá genannt?
Baba Jagá ist wahrscheinlich das älteste Wesen der russischen Folklore. So alt, dass Sprachwissenschaftler immer noch über den Ursprung des Namens streiten. Im Russischen bedeutet baba so viel wie Frau. In den indoeuropäischen Sprachen ist baba jedoch ein Stammvater oder eine Stammmutter. In der Tat wurden in Südrussland zahlreiche Steinskulpturen gefunden, die eine solche Stammmutter abbilden.
Es gibt keine eindeutige Übersetzung von Jagá ins Russische. Im Sanskrit bedeutet Jagá jedoch Opfer. Die Forscherin Olga Soljanik argumentiert: „Baba Jagá ist eine sehr alte Figur, die ihre Wurzeln in der Epoche des Matriarchats hat, als die Menschen eine Stammmutter und ein Totem verehrten.“
Warum lebt sie in einer Hütte mit Hühnerbeinen?
Eine weitere Besonderheit von Baba Jagá ist ihre Blindheit. Wenn ein Protagonist zu ihr kommt, erkennt sie dessen Anwesenheit nur am Geruch. Der Philologe Wladimir Propp argumentiert, dass dies darauf zurückzuführen sei, dass Baba Jagá in Wirklichkeit ein Wesen aus der Welt der Toten ist – denn „die Toten sehen die Lebenden nicht“. Baba Jagá selbst ist jedoch für jeden normalen Menschen, der ihr begegnet, mit bloßem Auge sichtbar.
Deshalb wohnt sie auch in einer Hütte am Rande der Wiese – Baba Jagá bewacht die andere Dimension (den Wald) vor den Lebenden. Aber warum hat die Hütte Hühnerbeine? Wie die Historikerin Alexandra Barkowa argumentiert, stamme dieser Teil aus dem alten Brauch der oberirdischen Bestattung. Von den Mokschas, einer in Zentralrussland lebenden mordwinischen Volksgruppe, ist bekannt, dass sie ihre Schamanen auf diese Weise bestattet haben. Oberirdische Bestattungen wurden nur in Fällen praktiziert, in denen es sich um verehrte Personen handelte: „Eine oberirdische Bestattung erlaubt es der Seele nicht, in das Land der Toten aufzubrechen“, schreibt Barkowa. Indem ein Schamane oder eine Hexe über der Erde, an der Grenze zwischen den beiden Welten, aufbewahrt wird, kann er/sie verehrt werden.
Die „Hühnerbeine“ sind in Wirklichkeit die Holzstümpfe, auf denen der Sarg steht. Darin liegt der Leichnam, weshalb auch Baba Jagá ein Knochenbein hat und „von Ecke zu Ecke mit der Nase in der Decke“ liegt: Sie befindet sich in einem Holzsarg.
Warum reist sie in einem Mörser mit einem Stößel?
Historiker behaupten, dass die Figur der Baba Jagá auf die Zeit der Schamanen und Hexen zurückgehe, die von den alten slawischen und vorslawischen Völkern verehrt wurden. Im Laufe der Zeit hat sie jedoch auch einige Merkmale der späteren Zeit angenommen. Märchenerzähler aus der Region Wladimir erzählten beispielsweise 1914, dass Baba Jagá „in einem Mörser herumfliegt, mit einem Stößel lenkt und mit einem Besen paddelt“.
Ein Mörser, der so groß ist, dass man darin sitzen kann, und ein ebenso großer Stößel – so etwas kann einen modernen Stadtbewohner nur überraschen. In russischen Dörfern waren Mörser und Stößel aber ebenso üblich wie Besen oder Ofengabel. Mörser wurden zum Zerkleinern von Getreide verwendet. Dieser Vorgang war nicht sehr schwierig, erforderte aber viel Zeit, weshalb er oft von alten Frauen durchgeführt wurde. Ein Mörser und ein Stößel waren die üblichen Attribute einer alten Hexe, wie Baba Jagá sicherlich eine war.
Warum ist sie in der heutigen Kultur so beliebt?
Das Geheimnis der Popularität von Baba Jagá liegt vor allem in ihrer unklaren Herkunft begründet. In der Tat kennt jedes russische Kind den Namen Baba Jagá, aber über ihre Verbindung zur Unterwelt oder ihre mögliche Abstammung von einer alten weiblichen Gottheit ist wenig bekannt. So taucht sie in verschiedenen Varianten in russischen Zeichentrickfilmen und -serien auf. Der Schauspieler Georgij Milljar verkörperte (obwohl er ein Mann war) Baba Jagá in zahlreichen sowjetischen Filmen der 1930er- bis 1960er-Jahre, darunter in Wassilissa die Schöne, Abenteuer im Zauberwald und Die Abenteuer des gestiefelten Katers.
Für das moderne westliche Publikum ist Baba Jagá oft nur ein allgemeines slawisches Monster – im Film John Wick zum Beispiel haben die Macher das weibliche Wesen unfreiwillig mit einem anderen slawischen „Schwarzen Mann“ verwechselt, dessen Name im Russisch ähnlich klingt – Babajka.
In der zweiten Staffel von The Witcher leiht sich die Antagonistin Voleth Meir (Mutter der Unsterblichen) einige Eigenschaften von Baba Jagá (ihre Hütte steht auf den Beinen von Basilisken – einer Art Höllenhuhn).
In der Graphic Novel Hellboy: Sarg in Ketten hat Baba Jagá eine ganze Episode für sich allein. Und in dem Manga/Anime Soul Eater gibt es das Schloss der Baba Jagá, das von der Hexe Arachne als Operationsbasis genutzt wird.