Während seines langen Lebens – der Maler starb im Alter von 97 Jahren – schuf Marc Chagall zahlreiche Gemälde, Grafiken und Glasfenster. Der Künstler erschuf eine besondere Welt, in der sich, wie in einem Kaleidoskop, die wechselvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts widerspiegelt. Menschen und Tiere fliegen durch die Luft, ebenso wie Fiedler und Engel, manchmal vor dem Hintergrund der geschwungenen Kurven des Eiffelturms und der fließenden Linien der Häuser seiner Heimatstadt Witebsk (damals Russisches Reich, heute Belarus). Schauen wir uns die zehn besten Werke des Meisters an.
- Ich und das Dorf (1911)
Als der 23-jährige Chagall 1911 nach Paris kam, um dort zu studieren, tauchte er in ganz neue Erfahrungen ein. Er lernte solche Zeitgenosse aus der Welt der Kunst wie Sonia Delaunay, André Lhote, Blaise Cendrars und Guillaume Apollinaire kennen. Die Ausstellungssäle wurden zu seinem zweiten Zuhause, in dem er die Gemälde der Impressionisten eingehend studierte und sich an den neuen Kunststilen dieser Zeit wie dem Futurismus und dem Kubismus versuchte.
Inspiriert von der Kunst der Fauves (französisch für die wilden Tiere), malte Chagall eine der Liebeserklärungen an die Orte seiner Kindheit. Es handelt sich weniger um eine Landschaft als vielmehr um das Bild eines ganzen Universums, das die Sehnsucht nach einer gewohnten Lebensweise widerspiegelt. Sich selbst malte er in Grün, eine Farbe, die für ihn Wiedergeburt und Freude symbolisierte. Als Léon Bakst, sein Lehrer aus St. Petersburg, das Werk sah, rief er aus:„Jetzt singen Ihre Farben!“.
- Der Fiedler (1912-1913)
Nachdem er in der berühmten Künstlerresidenz La Ruche im Pariser Stadtteil Montparnasse untergekommen war, widmete Chagall weitere Werke seiner Heimatstadt Witebsk. Da er kein Geld hatte, benutzte er alles, was ihm als Leinwand dienen konnte. So malte er das Gemälde Der Fiedler auf einer karierten Tischdecke, deren Muster auf der Kleidung und den Schuhen des Musikers zu sehen ist. In Witebsk fanden weder Hochzeiten noch Beerdigungen ohne einen Fiedler statt: Bei allen wichtigen Ereignissen des Lebens war immer einer dabei. Es ist kein Zufall, dass der Künstler ihn auf ein Dach gestellt hat: Chagall gestand einmal, dass sein Onkel immer auf das Dach kletterte, um dort ungestört Kompott zu trinken.
- Selbstbildnis mit sieben Fingern (1913)
In Frankreich fühlte sich Chagall ermutigt und inspiriert. „Keine Akademie hätte mir all das vermitteln können, was ich in den Ausstellungen, Schaufenstern und Museen von Paris entdeckt habe“, schrieb er. In den Jahren 1912-1914 stellte er seine Werke in der Société des Artistes Indépendants (zu Deutsch Vereinigung unabhängiger Künstler) aus, darunter sein erstes in Frankreich gemaltes Selbstporträt.
Der Künstler porträtierte sich in einem trendigen Anzug bei der Arbeit an dem Gemälde Für Russland, für Esel und für andere. Es spiegelt seine Liebe zu Paris und Witebsk wider – der Eiffelturm ist hinter dem Künstler zu sehen, während über seiner Staffelei eine Vision von Witebsk, einer „Stadt der Kirchen und Synagogen“, zu sehen ist. Diese Arbeit widerspiegelt seinen Wunsch nach Anerkennung. Chagall stellt sich mit sieben Fingern an einer Hand dar – also als Tausendsassa.
- Geburtstag (1915)
Die schicksalhafteste persönliche Begegnung in Chagalls Leben fand ebenfalls in Witebsk statt. Von 1906-1910 lebte und studierte er in St. Petersburg. Als er eines Tages 1909 nach Witebsk zurückkehrte, lernte er auf einer Party Bella Rosenfeld kennen und verliebte sich gleich. „Es war, als ob wir uns schon sehr lange kennen würden und sie alles über mich weiß. Und mir war klar, dass es meine Frau ist.“ Als der Maler 1914 von seinem Studium in Paris zurückkehrte, traf er sie wieder und ein Jahr später heirateten sie. Danach war seine Frau und Muse jahrzehntelang in seinen Gemälden zu sehen.
- Über der Stadt (1918)
Chagall malte Bella immer wieder, stellte sich mit ihr gemeinsam dar; und nach der Geburt ihrer Tochter Ida porträtierte er alle drei. Die Frauen auf Chagalls Bildern hatten unverwechselbare Züge: ein blasses Gesicht und schöne schwarze Augen – es war immer sie, die wichtigste Frau in seinem Leben. Der Künstler gab zu, dass er kein Werk fertigstellte, ohne vorher ihre Meinung zu hören. Sie hatte einen sehr starken und positiven Einfluss auf seine Kunst. Sehr oft porträtierte er die beiden, wie sie über eine Stadt flogen – ihre Liebe verlieh ihnen Flügel. Bella Chagall starb 1944, aber für den Künstler blieb sie eine ewige Quelle der Inspiration.
- Weiße Kreuzigung (1938)
In den 1930er Jahren erlebte Chagall gleichzeitige mehrere Umwälzungen. Nach der Machtübernahme durch die Nazis in Deutschland wurden seine Werke als „entartete Kunst“ eingestuft. Nach mehreren antijüdischen Pogromen 1938 malte Chagall, entsetzt über die Tragödie, das Gemälde Weiße Kreuzigung. Das Werk erzählt über die Verfolgung des jüdischen Volkes. In jenen Jahren lebte er bereits mit seiner Familie in Paris, und im Frühjahr 1941 entzog ihm das Vichy-Regime die französische Staatsbürgerschaft. Mit der Hilfe seiner Freunde gelang es ihm jedoch, in die USA auszuwandern.
- Die Hochzeitskerzen (1945)
Nach Bellas Tod wurde der Künstler in so tiefe Trauer versetzt, dass er neun Monate lang keinen Pinsel in die Hand nahm. Später jedoch malte Chagall in Erinnerung an seine geliebte Bella das Werk Die Hochzeitskerzen, das einen der glücklichsten Momente seines Lebens darstellt. Der Maler verewigte Bella, indem er die Bücher mit ihren Memoiren veröffentlichte, die von ihrer Tochter Ida ins Französische übersetzt wurden.
- Die Nacht (1953)
1948 kehrte Chagall nach Frankreich zurück. Die Bücher mit seinen Illustrationen – Nikolai Gogols Tote Seelen und Fabeln von Jean de la Fontaine – wurden endlich veröffentlicht. Außerdem machte er Fortschritte bei seinen grafischen Arbeiten für die Bibel. Gleichzeitig gab es Veränderungen im Privatleben des Künstlers. Ida machte ihn mit Valentina Brodsky bekannt. Sie heirateten und ließen sich dann in Saint-Paul-de-Vence unweit von Nizza nieder. Aber nach wie vor lebte in seinem Herzen die Heimatstadt Witebsk, nach der Chagall sich sehnte.
- Der Zirkus (1964)
Chagall war seit seiner Kindheit vom Zirkus fasziniert – seit er in Witebsk Akrobaten gesehen hatte. Der Künstler bezeichnete es als die tragischste Aufführung der Welt. Nach einem Besuch des Cirque d'Hiver in Paris schuf er eine Reihe von Werken zu diesem Thema und kehrte im Laufe seines Lebens immer wieder in die fröhliche, groteske Welt des Zirkus zurück. Zwei seiner monumentalen Werke – eines für das Watergate Theater in London und das andere für das Frankfurter Opernhaus – waren dem Zirkus gewidmet und zeigen Reiterinnen, Tiere, Clowns und Akrobaten.
- Abraham und die drei Engel (1960-1966)
In den 1930er Jahren reiste Chagall in das Heilige Land. Diese Reise hinterließ einen starken Eindruck und inspirierte ihn zur Illustration der Bibel. Doch sein Interesse an diesem Thema ging weit über eine einzige Veröffentlichung hinaus. Buntglasfenster, Wandteppiche, Drucke und Gemälde mit biblischen Themen wurden zu einem der Hauptmotive seiner Kunst. Diese Werke dienten als Grundlage für sein Museum in Nizza. Das große Gemälde Abraham und die drei Engel ist Chagalls Interpretation der Heiligen Dreifaltigkeit. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Leinwand in einen Dialog mit dem berühmten Meisterwerk von Andrej Rubljow tritt.