Schostowo: Alles, was Sie über Tablettmalerei wissen müssen

Russia Beyond (Photo: Larisa Gontscharowa)
Man biegt ein Stahlblech, überzieht es mit einer schwarzen Grundierung, bemalt es und trägt anschließend eine Lackschicht auf. Es scheint nichts Schwieriges daran zu sein, aber die Künstler denken: Um Schostowo-Kunst zu schaffen, muss man im Land seiner Entstehung leben.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde das gesamte russische Eisen an der Front gebraucht. In einem Dorf in der Nähe von Moskau jedoch brachte Andrej Gogin einigen Mädchen das alte Handwerk der Tablettmalerei bei, und zwar auf .... amerikanische Konserven. Sie wurden in humanitären Sendungen geschickt. Die Männer gingen an die Front, und die jungen Mädchen blieben auf dem Hof: Sie gingen in den Wald um Holz, heizten die Räume und lernten. Auf diese Weise schafften es die Handwerker selbst in jenen für das Russland schwierigsten Jahren, das Wissen über dieses alte russische Handwerk zu bewahren und weiterzugeben.

Schostowo ist ein altes Dorf im Rajon Mytischtschi in der Nähe von Moskau, das seit dem frühen 19. Jahrhundert bekannt ist. Dank des Leibeigenen Philipp Wischnjakow wurde ganz Russland auf dieses Dorf aufmerksam.

Wischnjakow arbeitete als Kutscher in einer großen freien Tabakfabrik des Kaufmanns Korobow im Nachbardorf Danilkino. Es heißt jetzt Fedoskino. Dort wurde mit der Herstellung der lackierten Pappmaché-Schachteln begonnen. Fedoskino-Lackminiaturen sind ebenfalls ein altes russisches Traditionshandwerk. Korobow hatte das Patent für die Lackierung in Deutschland erworben, und Wischnjakow übernahm seine Idee.

Fedoskino-Briefmarke.

„Nennen wir es Zusammenarbeit“

In seinem Dorf Schostowo eröffnete er eine „Lackierwerkstatt“. Anfangs arbeiteten sie auch mit Pappmaché: Schnupftabakdosen, Schachteln und Tabletts, die mit Kopien berühmter, zu dieser Zeit beliebter Gemälde oder Zeichnungen verziert waren. Das Geschäft florierte: ein Laden eröffnete im Zentrum von Moskau, und in Schostowo überließ der Bauer die Geschäftsführung seines „Betriebs der Brüder Wischnjakow für lackierte Metalltabletts, Brotschalen, Pappmaché-Schachteln, Zigarettenetuis, Teekannen, Bildbände“ seinem Bruder.

„Früher war Pappmaché wie Stein. Nicht umsonst dauert die Herstellung des Halbfabrikats sechs Monate. Zuerst wurden  Schachteln bemalt, dann Tabletts aus Pappmaché. Sie werden in St. Petersburg im Russischen Museum aufbewahrt. Die Kästen waren schwarz, man glaubte, sie seien die Erde, auf der die Blumen blühen“, erzählt Larisa Gontscharowa, verdiente Künstlerin Russlands, gebürtig in Schostowo.

Sowjetische Briefmarke aus Schostowo.

Im Jahr 1825 eröffnete der Sohn von Ossip Wischnjakow eine Werkstatt im Nachbardorf Ostaschkowo, wo er sich auf die Herstellung von Metalltabletts konzentrierte. Es heißt, dass der jüngere Wischnjakow auf dem Jahrmarkt Meistern aus dem Ural begegnet war, die mit Eisentabletts handelten, und dass er, wie sein Vater, die Idee von ihnen übernommen hatte. „Nennen wir es eine zweite Zusammenarbeit“, lacht Larissa Gontscharowa.

Die Metalltabletts hatten eine einfache, runde Form, und waren an den Seiten zunächst bescheiden verziert. Später begann man, sie im „Ural-Stil“ zu bemalen - mit Blumen und Kräutern, wobei der dunkle Hintergrund und die Lackierung beibehalten wurden, wodurch die Erzeugnisse lange Zeit hielten.

Nischni Tagil Malerei.

Mit der Aufhebung der Leibeigenschaft bekamen die Wischnjakows in der gleichen Gegend Konkurrenz: In Schostowo, im benachbarten Ostaschkow, in Chlebnikow und in anderen Dörfern eröffneten Familienwerkstätten, die die gleichen kunstvoll bemalten Eisentabletts herstellten

An Blechdosen geübt

„Mytischtschi“ kommt von dem Wort „Mytnja“, Zoll. Früher fuhren Schiffe mit Waren auf dem Fluss Kljazma nach Moskau, und in Mytischtschi hielten sie am Zoll. Dort gab viele Teehäuser, in denen die Kaufleute Tee tranken. Und es wurde natürlich auf Tabletts serviert“, erklärt Gontscharowa deren Beliebtheit in Schostowo im 19. Jahrhundert.

Das heutige Mytischtschi liegt in unmittelbarer Nähe zu Moskau: Aufgrund der Nähe zur Großstadt fanden die Handwerker auf den lokalen Messen leicht Abnehmer für ihre Waren. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erlitt das Handwerk von Schostowo, wie auch andere volkstümliche Gewerbe, aufgrund der beginnenden Industrialisierung und des Ersten Weltkriegs einen starken Rückgang. Die Männer zogen in den Krieg, die Frauen blieben auf dem Hof.

Frauen lernen das Schostowo-Handwerk.

Um 1930 änderte sich die Situation: Das Handwerk wurde wiederbelebt, und die Werkstätten schlossen sich in Genossenschaften zusammen. Doch der Krieg kam dazwischen.

In den 1940er Jahren wurde im benachbarten Fedoskino eine Kunstschule mit einer Abteilung für Schostowo-Malerei eröffnet, und in den 1960er Jahren verwandelte sich die Genossenschaft „Metallopodnos“ in die Schostowo-Fabrik für dekorative Malerei. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR wurde sie privatisiert und produziert heute noch.

„Der Staat unterstützt die Fabrik, es gibt große Vergünstigungen und Investitionen, ein Museum wurde eröffnet, sogar im Winter kommen Touristen mit dem Bus dorthin. Manche kaufen Tabletts, andere nicht, aber die Fabrik organisiert jeden Tag Führungen. Manchmal kommen sechs bis acht Busse pro Tag ins Museum, vor allem an den Wochenenden, und bringen Kinder mit“, freut sich Gontscharowa.

Vom Ohr des sibirischen Eichhörnchens

Dank des besonderen Herstellungsverfahrens können Schostowo-Tabletts viele Generationen hindurch verwendet werden. Es gibt Merkmale, die ein Tablett in jedem Fall aufweisen muss, um als „Schostowo-Tablett“ bezeichnet werden zu können. Der gepresste oder geschmiedete Rohling wird durch Entfernen der Folie vom Metall entfettet. Ohne diesen Schritt beginnt die Korrosion, die mit der Zeit das Tablett beschädigt.

Gontscharowas Tablett mit der Signatur des Autors.

Eine geölte schwarze Grundierung und Hintergrund werden aufgetragen, der Rohling wird abgeschliffen und dem Künstler übergeben. Dieser bemalt das Tablett in zwei Schritten. Die erste Schicht wird in geweißten Farben aufgetragen, danach das Blech über Nacht im Backofen getrocknet. Die zweite Schicht wird bemalt. Der Künstler erklärt die Feinheiten des Werks:

„Die Farbe ist Öl, die runden Pinsel sind aus dem Ohr eines sibirischen Eichhörnchens. Es handelt sich um besondere Pinsel, die von Hand gearbeitet und nur für Schostowo auf Bestellung hergestellt werden. Man kann sie nicht im Handel kaufen, sie sind teuer. Die Pinselführung muss weich sein, und das lässt sich nur mit einem Eichhörnchenpinsel erreichen. Die Pinselstriche werden in einem Atemzug ausgeführt. Das kann man nicht beschreiben, man muss mit einem Meister zusammensitzen und fühlen, wie ein Pinselstrich tanzt, wo man Druck ausüben, wo man den Pinsel anheben muss, wie man ihn hält und ausrichtet. Das kann man nicht im Internet lernen. Der Pinselstrich von Schostowo ist einzigartig“.

Eines der von Gontscharowa hergestellten Tabletts.

Das Muster entsteht auf der Oberfläche des Tabletts, die mit Leinöl benetzt ist. Dann folgen zwei Lackschichten: Sie fixieren das Bild und müssen glänzend sein. Gontscharowa erläutert: „Früher hat man die Lackschicht gekocht, aber die Technik wurde geheim gehalten. Mein Großvater kannte sie“. Und sie ergänzt, dass heute alle Jaroslawler oder amerikanische Lacke verwenden.

Anders als die Chochloma-Malerei auf Holzgeschirr beruht die Schostowo-Malerei nicht auf Vorlagen, die Künstler malen vielmehr „aus dem Kopf“. Die traditionellen Erkennungsmerkmale sind jedoch erhalten geblieben: volkstümliche Alltagsszenen, Dreispänner, Landschaften, Vögel, aber vor allem Blumensträuße. Es sind alle Arten von Blumen zu finden, von Winden bis zur Rose, die in der Schostowo-Kunst, wie auch in anderen Kunsthandwerken, als Königin der Blumen gilt. Die am weitesten verbreitete Komposition ist zentral ausgerichtet. Drei oder vier Blüten in der Mitte, mit kleineren Knospen und Blüten an den Rändern.

Zur Fabrik sind es drei Minuten durch das Kartoffelfeld

Schostowo liegt auf einer Halbinsel. Umgeben von Wasser war die Verbindung zum „Festland“ schon immer schwierig. Erst in den 1960er Jahren wurde fünf Kilometer von Schostowo entfernt eine Bushaltestelle eingerichtet und eine Strecke zum Sanatorium in Kljasma eröffnet. Aufgrund dieses Standorts arbeiteten in der Fabrik hauptsächlich Einheimische. In Schostowo leben noch immer Erben von Meisterdynastien: Antipows, Moschajews, Leontjews. Larissa Gontscharowa stammt aus der Beljajew-Dynastie, ihre Mutter und Großmutter und Vorfahren in der männlichen Linie waren allesamt Künstler und lebten dort.

Larisa Gontscharowa mit ihrer Mutter Nina.

„Zu Sowjetzeiten arbeiteten Einheimische in der Fabrik: Schmiede, Stanzer, Lackierer, Maler, Dekorateure. Aus der Fedoskino-Schule kamen die jungen Leute. Die wenigsten blieben in der Fabrik: Jeder muss sofort Geld verdienen, aber für meisterhaftes Können braucht man Jahre und Erfahrung. Es ist keine einfache Technik. Jetzt gibt es nur noch zwei Schmiede in der Fabrik. Sie sind beide über 70 Jahre alt, aber sie arbeiten trotzdem. Auch Künstler bestellen bei ihnen Gussformen, denn sie können alles schmieden. Die Arbeit ist intensiv, niemand will sie überhaupt lernen. Ich weiß nicht, was nach ihnen kommt".

Der Preis eines Tabletts hängt nicht nur davon ab, wie die Gussform hergestellt wurde: Sie können den Unterschied zu einer Fälschung an dem gebogenen Rand erkennen. Das Tablett wird mit einem Zertifikat geliefert, das bestätigt, wer es hergestellt hat. „Es gibt nur noch einen Künstler in der Fabrik - den Chefmaler Michail Ljebjedew“, sagt Gontscharowa. Das billigste Tablett im Fabrikladen kostet 2.000 Rubel. Man kann bis zu 180.000 Rubel für ein Werk des ausgezeichneten Künstlers ausgeben.

Nina Gontscharowa bei der Arbeit.

Im Jahr 2003 wurde Larisa Gontscharowa, wie ihre Mutter Nina Gontscharowa, mit dem Titel „Verdiente Künstlerin“ ausgezeichnet. Larissa arbeitete bis zu ihrer Pensionierung in der Fabrik: „Die Fabrik liegt direkt hinter dem Haus, drei Minuten über den Kartoffelacker“. Im Jahr 1996 machte sie sich selbstständig und eröffnete ihre eigene Werkstatt.

Seitdem reist sie auch einige Male im Jahr ins Ausland, um dort zu unterrichten. Nach Amerika, Australien, Deutschland und Italien: „Ich habe 15 Jahre lang in Amerika unterrichtet. Russisches Kunsthandwerk ist dort sehr beliebt. Natürlich kann man Schestowo-Kunst nicht in 3-4 Tagen lehren, aber die Kursteilnehmer lernten in dieser Zeit, einen Gegenstand zu malen. Man muss auf russischem Boden leben, um Schostowo zu begreifen“.

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