Der Fall des „Todesturms“: Die letzten Tage des Anti-Symbols der Ural-Stadt Jekaterinburg

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JULIA SHEVELKINA
Der seit den 80er Jahren unfertige Fernsehturm in Jekaterinburg wird in den nächsten Monaten abgerissen. Warum jetzt, nachdem er schon zahlreiche junge Opfer gefordert hat? Denn mit der Fußball-WM 2018 in Russland kommt auch Geld für solche städtebaulichen Projekte in den Ural.

Die Bauarbeiten an dem Jekaterinburger Fernsehturm begannen Anfang der 1980er Jahre. Aber er sollte niemals auch nur ein einziges Sendesignal abgeben. Dafür ist er selbst oft genug im Fernsehen – als „Todesturm“. Diesen wenig schmeichelhaften Spitznamen erhielt der 220 Meter hohe Rohbau der Ural-Hauptstadt als Folge einer Welle von Selbstmorden und Unglücksfällen auf der seit 1991 geschlossenen Baustelle.

Der Turm war ursprünglich analog zu den Fernsehtürmen im estnischen Tallinn, litauischen Vilnius und Baku  in Aserbaidschan geplant worden. Während die drei „Brüder“ aber bis heute ihre Besucher mit einem Kaffee im Panorama-Restaurant verwöhnen, wagen sich in Jekaterinburg nur Adrenalinjunkies in die Höhe, um in den leeren Aufzugschacht zu schauen und, oben angekommen, von der blanken Betonwand zu erfahren: „Der Turm nimmt sich das Seine!“. Besonders angesehen war es laut örtlichen Bergsteigern, den Turm über die äußere Feuerleiter zu erklimmen, weil man da sofort die Höhe spüren könne.

Der gefallene Held

Der Fernsehturm steht (noch) praktisch im Stadtzentrum Jekaterinburgs, direkt am Issetj-Ufer und in direkter Nachbarschaft mit dem Zirkus. Oft entstand die Idee, doch einmal auf die Bauruine zu klettern, bei einem einfachen Stadtspaziergang. Eine dieser „Bezwinger“ war die heute 32-jährige Jekaterina Degtjarewa, die den „Todesturm“ zum ersten Mal im Winter Ende der 90er Jahre bestieg. „Danach kletterten wir regelmäßig hinauf. Ich nahm meine Freundinnen, Mitschülerinnen und meine Schwester mit“, erinnert sich Degtjarewa. „Dort traf sich die alternative Jugend, ganz normale Leute hingen da ab, kuschelten, lasen Bücher, zeichneten einander Bildchen in die Tagebücher und kletterten hoch und runter. Das war eine Art Wohnheim. Im Sommer waren da teilweise bis zu 300 Leute.“

Diese Jugend-Szene hatte natürlich auch ihre Helden, zum Beispiel den Medizinstudenten Alexander Paljanow. Dieser kletterte, so beschreibt es die Legende um den „Spinnenmann“, bei jedem Wetter, tags und nachts auf den Turm, auch mit verbundenen Augen, Händen und Beinen. Angeblich hat er sich einmal gar Gewichte an die Beine gehängt und sich dann an der Feuerleiter nach oben gehangelt.

Im Oktober 1998 dann bezwang er den „Todesturm“ zum letzten Mal: Bei seinem Spaziergang auf der Aussichtsplattform trat er in eine der vielen Löcher für die Technik. „Er stürzte nachts ab, es war kalt und es lag schon Schnee“, erinnert sich Degtjarewa. „Wir gingen am Morgen hin. Da sahen wir, dass er auf den breiten Betonfuß geknallt war. Dort gab es große Armaturen, dick wie Eisenbahnschienen. Alles war verdreht, eine riesige Blutlache, die Schuhe lagen weit entfernt…“

Spannung, Schrecken… und Tod

Paljanow ist das bekannteste Opfer des „Todesturms“. An ihn erinnert eine Aufschrift neben der Absturzstelle: „Turm des Alexander Paljanow. Er hat den Turm bezwingen wollen, aber der Turm holte seinen ‚Helden‘ für immer zu sich.“ Im Lokalfernsehen wurde damals gezeigt, wie Paljanows Überreste in Säcken abgeholt wurden. Mehr als zehn Jahre später, 1999, wurde der Sender für seine Sondersendung über den „Todesturm“ mit dem russischen Fernsehpreis TEFI ausgezeichnet. In den Nachrichten jener Zeit wurden die abgerissenen Arme, Beine und in den Eisenstangen aufgespießte Leichen der Menschen gezeigt, die an dem Turm den Tod fanden. Bis heute verbreiten sich diese Gruselgeschichten im Internet weiter, aus den Tatsachen werden Legenden. Kaum jemand kann noch sagen, was wirklich wahr ist, und was die Zeit hinzugedichtet hat.

Der offiziell letzte Todesfall am Jekaterinburger Fernsehturm wird auf den 9. Mai 2000 datiert, als drei junge Frauen auf den Turm kletterten, um das Feuerwerk zum „Tag des Sieges“ von oben verfolgen zu können. Eine von ihnen rutschte auf der Leiter aus und riss die anderen zwei mit. Tanja, die ausgerutscht war, kam ums Leben, ihre Freundinnen kamen mir schweren Knochenbrüchen, aber mit dem Leben davon. Ihren Profilseiten in den sozialen Netzwerken zufolge konnten die Brüche geheilt werden, die Mädchen führen heute ein normales Leben. Aber über ihren Unfall wollen sie öffentlich nicht sprechen, wie auch viele Angehörige der Toten. Nicht jeder möchte immer wieder zu diesen tragischen Momenten zurückkehren.

Die Legende vom Abriss

Nach jenem letzten Unglücksfall 2000 wurden die Aufgänge auf den Turm endlich völlig blockiert, auf dem Gelände wurde eine Security-Firma mit Wachhunden engagiert. Dennoch geben sich Jugendliche noch heute – vor allem im Internet – Tipps, wo und wie man am besten diese Hindernisse umgehen und den „Todesturm“ dennoch besteigen kann. Dann verabreden sie sich und machen sich gemeinsam auf, den berüchtigten Turm zu erklimmen.

Laut den Wachmännern wurden im Sommer 2017 täglich bis zu vier „Kletterer“ am Turm festgesetzt. Darunter nicht nur Jekaterinburger, sondern auch viele Adrenalin-Touristen aus anderen russischen Städten.

Nun ist jedoch des „Todesturms“ letzter Winter angebrochen. Denn im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland, die unter anderem auch in Jekaterinburg stattfinden wird, soll die todbringende Bauruine endlich abgerissen und an ihrer Stelle eine neue Eislauf-Arena gebaut werden.

Ähnliche Pläne gab es schon früher. In den 90er Jahren stand der Turm noch „herrenlos“ in der Stadt, in den 2000er Jahren dann fand sich zwar ein Investor, der ihn fertigbauen wollte. Aber die Finanzkrise durchkreuzte dessen Pläne. 2013 dann gab es eine Ausschreibung um das beste Rekonstruktionsprojekt für den Turm. Dabei wurde vorgeschlagen, ihn zu einem Leuchtturm, einer orthodoxen Kirche oder auch ein schickes Standesamt umzugestalten. All diese Ideen jedoch scheiterten immer wieder an der Finanzierungsfrage.

Die Frage um das Schicksal des Turms allgemein teilte die Jekaterinburger Einwohner in zwei Lager. Für die einen ist er trotz allem ein Symbol ihrer Stadt, für die anderen ist er eine einzige große Gefahrenquelle.

Und selbst die vielfache Turm-Bezwingerin Degtjarewa, die mehr als 30 Mal hinaufkletterte, ist sich unsicher: „Natürlich ist es schade, dass es den Turm bald nicht mehr geben wird. Aber wissen Sie, ich war im Sommer dort, bin aber nicht mit den anderen hochgeklettert. Ich dachte plötzlich, dass es das nicht wert ist, noch einmal das Schicksal herauszufordern. So viele Tote gab es schon, so viele Menschen hat der Turm schon zu sich geholt! Es gibt Gedichte und Lieder an den Turm. Er ist schon eine Art Totem geworden.“

Der Abriss wird diese Romantisierung rund um den „Todesturm“ sicher nur teilweise beenden, aber immerhin weitere jugendliche Kletterer und deren Familien vor weiteren Tragödien bewahren.

Weit weniger gefährlich ist ein Spaziergang durch Jekaterinburg als "Hauptstadt der sowjetiwschen Avantgarde" - mit Startpunkt auf dem (gut gesicherten) Business-Wolkenkratzer „Wyssotski“:

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