Warum sich Russland endlich zum Feminismus bekennen sollte

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JULIA SCHAMPOROWA
„Feminismus ist die radikale Vorstellung, dass Frauen Menschen sind“, schrieb die Autorin Marie Shear im Jahre 1986. Die Reporterin Julia Schamporowa berichtet, warum in der russischen Gesellschaft von Gleichberechtigung immer noch keine Rede sein kann.

Der Sieg des Feminismus in Russland stellt sich am Ende als „unecht“ heraus, obwohl er jahrzehntelang sowjetischen Männern und Frauen als „wahr“ verkauft wurde. Trotz der aktiven feministischen Bewegung im Russischen Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Tatsache, dass Frauen im Jahr 1917, also früher als in vielen anderen Ländern, das Wahlrecht erhielten, kann  in Russland von der Gleichstellung der Geschlechter keine Rede sein.

Angesichts der immer noch patriarchalischen Gesellschaft in Russland sind Frauen bis heute großen Ungleichheiten ausgesetzt. Ein Teil des Problems ist, dass das Wort „Feminismus“ und Feministinnen in Russland im Allgemeinen negativ wahrgenommen werden. Viele Menschen haben Angst davor, sich Feministinnen zu nennen, unterstützen jedoch die Idee der Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Viele Russen glauben darüber hinaus, dass das Glück einer Frau von der Ehe und von den Kindern abhängt und sie natürlich die volle Verantwortung übernehmen sollte, sie groß zu ziehen.

Träume ja nicht davon, Präsidentin zu werden!

Obwohl Frauen in Russland in der Regel bessere Ergebnisse in der Schule und an der Universität erzielen, enden sie für gewöhnlich auf einer durchschnittlichen Stelle, während leitende Positionen überwiegend von Männern besetzt sind. Laut dem „Gender Gap Index 2017“ des Weltwirtschaftsforums arbeiten 38,7 Prozent der Frauen im Vergleich zu 61,3 Prozent der Männer als Richter, hohe Beamte und Manager. Zeitgleich sind 61,3 Prozent der Frauen als Fach- und technische Mitarbeiter tätig, während es bei den Männern nur 36,8 Prozent sind.

Es gibt nicht nur in Führungspositionen weniger Frauen, sondern auch im Parlament: Dort liegt ihr Anteil bei 15,8 Prozent. Der Anteil der Frauen an Ministerposten fällt sogar noch geringer aus: Er liegt bei 9,7 Prozent.

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Gleichzeitig ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Anwesenheit von weiblichen Führungskräften in der Unternehmensführung die Rentabilität eines Unternehmens erheblich erhöht. 

Ein UN-Bericht zeigt ebenso, dass sich bessere Chancen für Frauen im Bereich der Beschäftigung und Bildung positiv auf die Wirtschaft eines Staates auswirken. 

Die Ehe ist kein Karriereweg!

Es gibt immer noch viele Situationen, in denen Frauen mindestens 30 Prozent weniger als ihren männlichen Kollegen für die gleiche Arbeit gezahlt wird. Das Magazin „Snob“ veröffentlichte kürzlich einen Artikel, in dem Fälle von weiblicher Arbeitsdiskriminierung beschrieben wurden. In einer Geschichte ging es um einen Chef, der die Ungleichheit der Bezahlung durch die „Tatsache“ rechtfertigte, dass Männer ihre Familien unterstützen müssen. Die meisten der Angestellten waren in dem Fall allein erziehende Mütter.

Zudem hat eine russische Frau, wenn sie heiratet und gleichzeitig Karriere machen will, möglicherweise Probleme, einen Job zu finden. Der potenzielle Arbeitgeber wird sie nach ihren Kinderplänen fragen, die einen Mutterschaftsurlaub nach sich ziehen, der in Russland drei Jahre dauert. Eine positive Antwort darauf senkt also die Jobchancen der Frau, auch wenn sie besser qualifiziert ist.

Eine künftige Lösung für dieses Problem könnte darin bestehen, den Mutterschaftsurlaub zwischen einer Frau und einem Mann aufzuteilen und Männer dazu zu ermutigen, sich ebenfalls an der Kindererziehung zu beteiligen. Ein Vaterschaftsurlaub kann zudem dabei helfen, Arbeitgeber davon abzuhalten, Frauen zu diskriminieren, da Männer die gleiche Elternzeit wie die Frauen bekommen.

Häusliche Gewalt und die Beschuldigung der Opfer

Des Weiteren gibt es in Russland viele Fälle von häuslicher Gewalt, die ungestraft und unerzählt bleiben. Viele Opfer kontaktieren nicht einmal die Polizei. Dafür gibt es mehrere Gründe. Dazu zählen die Toleranz gegenüber häuslicher Gewalt in der Gesellschaft, das Fehlen einer verbindlichen Bestrafung dieser Taten sowie die fehlende Einsicht, dass beispielsweise Vergewaltigung auch in einer Ehe passieren kann und ein Verbrechen ist.

Im Januar 2017 verabschiedete die russische Duma ein Gesetz zur „Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt“. Das bedeutet, dass das Schlagen eines Familienmitglieds mit einer Geldstrafe geahndet wird und nicht automatisch mit einer Gefängnisstrafe. Vor allem Frauen und Kinder leiden in der russischen Gesellschaft unter häuslicher Gewalt und jetzt stehen ihnen viel weniger legislative Mittel zur Verfügung, um sich zu schützen. Nach offiziellen Statistiken des russischen Ministeriums für Innere Angelegenheiten wurden im Jahr 2015 50 780 Menschen Opfer häuslicher Gewalt, davon 36 493 Frauen und 11 756 Kinder.

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Die öffentliche Meinung toleriert nicht nur Gewalt gegen Frauen, sondern oft auch die Beschuldigung der Opfer. Die Fälle, in denen die Presse über Frauen, die Opfer sexueller Belästigung, Vergewaltigung oder Mords wurden, berichtet wurde, werden oft mit negativen Kommentaren seitens der Öffentlichkeit überhäuft. Die Kernbotschaft dabei ist: Sie ist wahrscheinlich selbst schuld, da ihr Rock zu kurz oder sie zu freundlich war und ihn damit provozierte.

Im vergangenen Jahr widmete die populärste tägliche Show auf dem russischen Fernsehsender Kanal Eins dem Fall von Diana Schurygina, einem 16-jährigen Mädchen, das auf einer Party vergewaltigt wurde, fünf Beiträge. Während der besten Sendezeit diskutierten Politiker, Popstars, Aktivisten und die Familie des Vergewaltigers, wer dafür verantwortlich war. Viele Leute beschuldigten das Mädchen, zu dieser Zeit betrunken gewesen zu sein. Die Teenagerin war so traumatisiert, dass sie nach der Tortur psychologische Behandlung erhielt.

Nur zehn bis zwölf Prozent der Opfer sexueller Gewalt in Russland wenden sich an die Polizei. Nach Einschätzung verschiedener Organisationen, die sich mit dem Thema beschäftigen, haben viele Angst davor, beschämt zu werden.  

Der jüngste Fall zum Thema Frauenhass handelt von einem Moskauer Student, der brutal seine Mitbewohnerin tötete, weil er behauptete, in sie unerwidert verliebt gewesen zu sein. Nach der Tat beging er Selbstmord und hinterließ einen detaillierten Geständnisbrief. Nach Meinung von Psychiatern hatte der Mörder offensichtliche psychische Probleme. Dennoch begannen einige Leute in der russischen Gesellschaft, das Opfer zu beschuldigen, was in den soziale Medien bei den russischen Frauen für Empörung sorgte.

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Und Sie fragen sich immer noch, ob Russland den Feminismus wirklich braucht? Ja. Mehr denn je.

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