Wer rastet, der rostet: Russische Rentner werden aktiv

Lifestyle
GEORGI MANAJEW
Mit zunehmender Lebenserwartung lernen die älteren Menschen weltweit, wie man aktiv und neugierig bleibt, sogar wenn der Körper nicht mehr ganz so mitmacht, wie man es gerne hätte. Ein Instagram-Blog macht auf das Problem des „dritten Alters“ in Russland aufmerksam.

Die Idee dazu kam Roman Saripow in Las Vegas als er an einem Pokertisch saß und gerade wieder eine Runde gegen eine muntere Gruppe amerikanischer Spieler, die alle um die 70 waren, verloren hatte. Allerdings taten die alle nicht so, als sei es der letzte Tag in ihrem Leben. Ganz im Gegenteil.

Zurück in Moskau, beschloss der Unternehmer Roman, ältere Menschen zu suchen, die weiter an sich arbeiten und sogar in höherem Alter ein aktives Leben anstreben. Dieses Problem ist in Moskau durchaus akut. Es gibt hier viele einsame Rentner deren Kinder sie nur selten besuchen. Sie sind sich weitestgehend selbst überlassen, denn einerseits haben sie viel Zeit, aber andererseits nur einen kleinen Freundeskreis.  

Helden im Seniorenalter

“Ich wurde von meinen eigenen Großeltern inspiriert”, sagte Roman in einem Interview. “Die Eltern meiner Mutter gingen vor etwa fünf Jahren in den Ruhestand und es hat den Anschein, als ob sie mehr unternehmen, als ich. Mein Großvater geht angeln, treibt Sport und mit seinen 76 Jahren schafft er mehr Liegestütze als ich. Meine Großmutter erteilt halbtags Nachhilfeunterricht und beschäftigt sich mit Nordic Walking. Beide sind sehr aktiv in den sozialen Medien. Zu Weihnachten habe ich Ihnen ein iPad geschenkt.”

Es war nicht ganz leicht, Senioren für das Projekt Nochmal 20 sein”, das ist der Name von Romans Foto-Blog, zu gewinnen. “Im Sommer 2017 sind wir damit gestartet“, berichtet er. “Über mehrere Monate hinweg haben wir unsere Senioren-Helden gesucht, mit Wohltätigkeitsorganisationen verhandelt, die Fotoshootings und Interviews organisiert. Im Winter hatte das Projekt dann endlich Fahrt aufgenommen – innerhalb von acht Wochen veröffentlichten wir 20 Geschichten inklusive Fotos.“ Das Projekt wird von “Sofia”, einer Moskauer Wohltätigkeitsorganisation für ältere Menschen, unterstützt.

“Die Teilnahme an einem Foto-Shooting und ein Interview allein, können das Leben eines Rentners freilich nicht umkrempeln“, meint Roman. “Es ging vielmehr darum, diesen Menschen das Gefühl zu geben, dass sie unterstützt werden und natürlich auch darum, mit ihnen eine tolle Zeit zu verbringen. Die Initiative erzielte recht hohe öffentliche Aufmerksamkeit in Russland und die Berichterstattung in mehreren Zeitungen sowie Posts in den sozialen Medien durch einige Dutzend berühmte russische Blogger trugen dazu bei, dass „Sofia“ mehr finanzielle Unterstützung akquirieren konnte.

“Sie haben etwas zu tun”

“Der Vater meines Vaters hat Zeit seines Lebens in einem Bergwerk gearbeitet, der Vater meiner Mutter war Arzt“, fährt Roman fort. “Beide sind vorzeitig in den Ruhestand getreten, was in diesen Berufen üblich ist. Zu arbeiten allerdings, haben sie nicht aufgehört. Sie starteten ein Unternehmen zur Produktion von Tierfutter und eröffneten in der gesamten Region Tscheljabinsk Geschäfte.“

Arbeit ist für viele russische Rentner der Sinn des Lebens. Nichtstun bedeutet Stillstand. “Ich habe viele Freundinnen, die jünger sind als ich, die so gut wie nichts machen. Sie sitzen nur zuhause rum, beschweren sich über alles und es geht ihnen immer schlechter“, sagt Raisa, 87, eine pensionierte ehemalige Staatsangestellte aus Moskau. “Auch ich habe einige Sorgen, meine Beine versagen mir öfter mal den Dienst, mein Blutdruck ist oft zu niedrig, und dennoch kann ich nicht bloß rumsitzen. Ein aktives Leben hält mich fit. Ich stricke, bringe die Wohnung auf Vordermann, gehe einkaufen und browse im Facebook“, ergänzt sie.

Ist der dritte Lebensabschnitt ein Problem?

“Ich bin froh, dass ältere Menschen in Russland besser behandelt werden als zu Sowjetzeiten. Diese Fortschritte sind in Moskau sichtbarer als in anderen Regionen“, sagt Saripow. “Das Rentenalter ist nicht länger gleichbedeutend mit Krankheit und Einsamkeit. Der aus dem Westen stammende Begriff „drittes Alter“ wird immer öfter gebraucht. Nachdem die Menschen in den Ruhestand getreten sind, sind sie nicht gleichzeitig aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Im Gegenteil, sie leben aktiv und haben mehr Zeit Neues zu entdecken. Ich hoffe, dass dieser Trend weiter zunimmt, und das nicht nur in den großen Städten.“

In Moskau und Sankt Petersburg ist die soziale Absicherung besser. Es gibt mehr Menschen die das Geld und die Bereitschaft besitzen, für Wohltätigkeitszwecke zu spenden. Die Mehrheit der Russen jedoch kann mit dem Begriff „drittes Alter“ noch nichts anfangen. Die Regierung hat das Problem zu spät erkannt. Menschen über 60 Jahre werden noch immer wie Senioren behandelt, die in den Ruhestand treten sollten. Dazu kommt, dass leider auch Arbeitgeber ältere Menschen abweisen.

Werden sich die Dinge zum Besseren wandeln? Wohl kaum. Aber die betroffenen Bürger nehmen ihr Schicksal in die eigene Hand. In den letzten zehn Jahren haben sich viele private Organisationen gegründet, die ältere Menschen unterstützen. “Wir besuchen oft mittelalterliche Kirchen oder Klöster in und um Moskau herum. Diese Ausflüge werden vom Wohltätigkeitsverein ‚Sofia‘ organisiert“, berichtet die 78-jährige Lidia aus Moskau.

Auch die lokalen Behörden bemühen sich zunehmend um ältere Menschen. “Sie spielen eine bestimmte Rolle in unserem Leben – sie rufen schon mal an, bieten Ausflüge, Vorträge und andere Aktivitäten an“, lobt Lidia. “Ich bin zudem Mitglied einer Organisation für ehemalige Armeeangehörige, 40 Jahre war ich Gewerkschaftsfunktionärin in einer Fabrik für militärisches Gerät. Auch die bieten Exkursionen an.”

Zusammenhalten in der Not

Doch nicht alle Gewerkschaften kümmern sich um ältere Menschen. Walentina, 79, hat 50 Jahre als Krankenschwester gearbeitet. Jetzt, im Rentenalter, erhält sie dank ihrer langjährigen Kontakte zur Pharmaindustrie eine bessere medizinische Betreuung. “Medikamente sind sehr teuer und meine Rente beträgt nur 17 000 Rubel (etwa 250 Euro); auch Lebensmittel sind nicht gerade billig. Wir Senioren durchleben eine schwere Zeit”, meint Walentina.

Alle, die an den Interviews teilgenommen haben, sind sich in einem Punkt einig – jeder ist seines eigenen Schicksals Schmied. “Ich war Zeit meines Lebens ein Optimist”, schätzt sich Walentina ein. “Ich rufe meine Freundinnen und Freunde an und überrede sie, ins Theater oder ins Kino zu gehen oder einfach nur einen Spaziergang zu machen oder gemeinsam eine Tasse Tee zu trinken. Außerdem bin ich eine gläubige Christin und gehe jeden Sonntag in die Kirche und helfe dort während des Gottesdienstes und der Reinigung der Kirche aus.“

“Ich will einfach nur ein aktives Leben führen”, sagt Lidia. “Wenn ich nicht mehr in der Lage bin, auf Reisen zu gehen oder Spaziergänge zu unternehmen, dann sehe ich eben fern, lese oder höre Radio, um auf dem Laufenden zu bleiben.“

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