Man könnte durchaus dutzende Gründe dafür finden, warum es für einen Russen möglich ist, depressiv zu sein: Schreckliche Straßen, ungleiche Verteilung von Gesundheitsversorgung und Bildung im ganzen Land, Provinzen, die aufgrund der weitverbreiteten Korruption ohne Hoffnung auf Entwicklung leben sowie ein raues Klima, das zugleich unberechenbar ist, lange Nächte und riesige leere Flächen.
Schließlich gehören wir zu den am dünnsten besiedelten Ländern der Erde – und auch zu den größten. Dadurch leben wir oft in einer sozialen Isolation. Wie alle anderen auch, verarbeiten wir all das in unseren Liedern, Büchern und Filmen.
Die persönlichen Erfahrungen der eigenen Kultur bilden die andere Hälfte des Puzzles. Ein Russe bekämpft sein eigenes Leid nicht mehr als ein Panamaer sein eigenes Glück bekämpft.
Mehr als nur eine richtige Antwort
Wenn man über natürliche Faktoren spricht, die zu Depressionen führen, könnte man ebenso an Städte in Schweden, Norwegen oder Finnland denken. Und Sie lägen nicht falsch. In der Nähe des nördlichen Polarkreises gibt es eine erhöhte Anzahl an Menschen, die an Depressionen leiden. Einige von diesen Ländern haben trotz des hohen Lebensstandards die höchsten Raten an Depressionen in ganz Europa. Sie brauchen Vitamin D, um glücklich zu sein – das ist wissenschaftlich belegt.
Dennoch konkurrieren die oben genannten Länder kaum mit Russland, wenn es um eine depressive Bevölkerung geht – zumindest in den Augen von Außenstehenden.
Bis zum heutigen Tag versucht Russland, die massive Ungleichheit zu beseitigen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zurückblieb. Damals lag mehr als die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes des Landes in den Händen von kriminellen Bossen im Untergrund, die Industrien inmitten der Schocktherapie der Wirtschaftspolitik in den frühen 1990er Jahren kauften. Mit dem vergangenen Kommunismus kam nun der von Ökonomen sogenannte „Gangster-Kapitalismus“ als Ersatz. Aber er wurde einer Nation aufgedrängt, die dringend ihre Identität neu finden musste. Ohne eine einzige nationale Vorstellung reduziert sich Glück nun mal auf Geld.
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In der Zwischenzeit wurden zudem lange bestehende Probleme, wie Russland seine eigenen Leute behandelt, nicht gelöst. Und der Kreislauf setzte sich fort: Um die harte Zeit durchzustehen, mussten die Russen zäh und mürrisch werden. Diese Machismo-Kultur ist nie verschwunden.
Wie in vielen Ländern des ehemaligen Ostblocks gehört auch diese Leugnung des Schmerzes zum kulturellen Kern. So lange ich mich erinnern kann, lief es immer folgendermaßen ab: Je mehr man sich beschwert hat, desto verworrenere Erklärungen bekam man, warum dieser Schmerz gut oder wichtig ist. Dies ähnelt stark dem orthodoxen Christentum, mit dem Schwerpunkt auf Leiden und Opfer, im Gegensatz zu den eher geschäftstüchtigen und fröhlichen Protestanten. Es ist also keine Überraschung, dass „christliche Werte“ in Russland weiterhin solch eine wichtige Rolle spielen. Es ist sehr praktisch, sie anstelle einer stabilen nationalen Idee zu verwenden. Niemand außer Gott wird sich um Ihre Probleme kümmern – und ganz sicher nicht die Regierung.
Russischer Überlebensmodus
Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich Russland, da man sich auf die zentralisierte Autorität nicht verlassen kann, lieber zurückzieht und seine Hoffnungslosigkeit durch Kunst ausdrückt. Sie sind also entweder ein „echter russischer Macho“ oder Sie leiden still oder auf künstlerische Art und Weise. Das sind die Möglichkeiten, aber leiden werden Sie auf jeden Fall. Aus diesem Grund können die Besucher Russlands nicht verstehen, wie all das Ballett und die Architektur von so einer abgehärteten Menschenmenge stammen können.
Russen wollen nicht deprimiert sein – das ist niemandes natürliches Verlangen. Was uns jedoch rettet, ist ein völliger Mangel an Tabus wenn es darum geht, sich selbst auszudrücken. Das beinhaltet Literatur, Film, Ballett, Trinken und Kämpfen. Und Sie können diese Dinge nicht trennen. Russland ist wie ein Pauschalurlaub.
Um diesen inneren Aufruhr etwas besser zu verstehen, lesen Sie sich Fjodor Dostojewskis „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ durch. Der Roman wird von vielen als einer der ersten angesehen, der zum existentialistischen Genre gehört. Von modernen Autoren können Sie die Kurzgeschichten von Sergei Dowlatow lesen. Die Hoffnungslosigkeit ist deutlich spürbar, aber es ist eine glückliche, resignierte – komische – Hoffnungslosigkeit. Dowlatow musste einer der lustigsten Menschen im Land gewesen sein. Und so auch Nikolai Gogol – ein komödiantisches Genie, das gegen Ende seiner Tage buchstäblich verrückt wurde.
Im Gegensatz zu den anderen Ländern, die in diesem Text aufgeführt wurden, erstreckt sich unser Land über zwei Kontinente. Russisch zu sein ist also emotional verwirrend. Unser ethnopsychologischer Kern ist bestenfalls schwach – ein Problem, das durch fast 190 ethnische Gruppen verschärft wird, die alle als unterschiedliche Nationalitäten innerhalb Russlands gelten.
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Unser Zynismus entsteht also durch eine natürliche Uneinigkeit. Es vermischt sich dann mit einem Mangel an Vertrauen in die Verbesserung der zukünftigen Perspektiven, sowie mit unserer natürlichen Neigung zur Ausdrucksfähigkeit. Als Ergebnis erhalten Sie eine angefressene und extrovertierte Nation, die scheinbar über alles unglücklich ist, was ihr begegnet, und – sehr zum Schrecken westlicher Zuschauer – sich weigert, etwas an ihrer Situation zu ändern. Sie schwelgt sogar in ihr. Sie können einem Russen nicht befehlen, glücklich zu sein – das ist er nämlich schon! Und er wird nicht zulassen, dass Sie ihn vom Gegenteil überzeugen.
Zusammenfassend möchte ich vielen Liebhabern Russlands widersprechen, die russische Traurigkeit zu romantisieren. Einige sagen, dass wir gerne hintergründig erscheinen und unsere „Seele“ als Zeichen der Ehre tragen. Und während die moderne globale Kultur diesen Begriff ausnutzen kann, vernachlässigt sie letztlich die interne Kausalitätskette. Sie könnten die russische Traurigkeit nicht besser verstehen, als Sie die „französische Arroganz“ oder die „germanische Zurückhaltung“ verstehen könnten. Sie sind alle ein Zeichen für eine Vielzahl von situativen Faktoren, die zu unübersichtlich sind um sie zu entwirren.
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