Gothics, Emos und andere Jugendsubkulturen: Wo sind sie in Russland hin?

Anastasia Markelowa/TASS
In den späten Neunzigern und während der Nullerjahre hatten Jugendsubkulturen in Russland Hochkonjunktur. Ehemalige Gothics, Punks, Anhänger von Grunge und Metal oder Anime-Fans – wo sind sie heute?

In Schwarz gehüllt: Gothics

Mitte der 2000er war Timur ein Gothic. Dinge wie Facebook, VKontakte und Instagram gab es damals nicht, Social Media tauchte in Russland erst im Jahr 2006 auf. Deswegen konnte er nur in Foren mit neuen Leuten schreiben und sie an unauffälligen Orten wie etwa verlassenen Fabriken oder alten Friedhöfen treffen, an denen eine ganz bestimmte Stimmung herrschte.

Timur als Gothic

„Einmal unterhielten wir uns am späten Abend auf einem Friedhof, als wir hörten, dass sich uns jemand näherte. Es waren zwei Jugendliche. Sie zögerten einen Moment, dann fragte einer von ihnen:

‚Seid ihr Gothics?‘

‚Ja.‘

‚Was macht jemanden zu einem Gothic?‘

Mir war noch nie so eine ungewöhnliche Frage gestellt worden.“

Timur heute

Der dreißigjährige Timur ist nun Unternehmer und besitzt ein Zentrum für psychologische Bildung. Er denkt gern an seine Jahre als Gothic zurück. „Jede Generation hat ihre eigenen Strömungen. Dies war eine Subkultur der russischen Generation Y und ich bereue nicht, dazugehört zu haben“, fügt er hinzu.

Das war ein Schock für meine Mutter“ – Anime-Fans

„Meine Eltern denken seit fast fünf Jahren darüber nach, meinen Computer zu zerstören. Erst waren es Videospiele, jetzt ist es Anime. Die meisten meiner Freunde halten meine Begeisterung für Anime für abnormal, aber das hält mich nicht davon ab. Die einzige Krise hatte ich, als meine Mutter mich dabei erwischte, wie ich Hentai schaute, pornografische Animes. Das war für sie ein Schock. Sie war kurz davor, mich zum Psychologen zu bringen“, schrieb ein anonymer Nutzer im Jahr 2007 in einem Forum (rus).

Nikolai Nowizkij im Jahre 2012

Die Anime-Kultur kam in den späten 1980er Jahren mit raubkopierten Filmen nach Russland. „Videorekorder wurden aus Japan und den Vereinigten Staaten ins Land gebracht und nicht selten schufen ‚Piraten‘ Serien, basierend auf einem Film“, offenbart der 38-jährige Nikolai Nowizkij. Seine Begeisterung für Anime verfliegt nicht. Nikolai nimmt noch immer an Anime-Festen teil, wo er aushilft und sogar Veranstaltungen organisiert.

Nikolai Nowizkij heute

„Ich sehe heute mehr aus wie eine Figur aus einem Anime als noch vor 20 Jahren. Bis vor ein paar Wochen hatte ich einen Irokesenschnitt und grüne Haare. Ich muss nicht arbeiten, also bin ich momentan zu Hause“, sagt er. Zuvor arbeitete Nikolai als leitender Logistiker in einer kleinen Lagerhalle.

Man hatte Angst davor, ein Niemand zu werden” – Emo und Alternativrock

Eduard im Jahre 2008

„Wir dehnten unsere Ohrläppchen, piercten unsere Lippen, Zungen und sogar unsere Wangen. Wir färbten unsere Haare und sprangen bei Konzerten von der Bühne ins Publikum“, erinnert sich der 26-jährige Eduard. Sie taten so ziemlich alles, was man als Emo oder Alternativ bezeichnen würde: Subkulturen, die kaum klare Grenzen haben und Heavy Metal, Punk und Rap kombinieren.

Jetzt behauptet Eduard, ein Künstler zu sein, der Videos produziert. „Als Jugendlicher arbeitete ich auf Baustellen, dann als Kellner und Barkeeper. Dann sah ich ein, dass diese Arbeiten nichts für mich waren. Die Vorstellung, in einem Büro zu arbeiten, konnte ich auch nicht ertragen“, sagt er.

Eduard heute

Man hatte Angst davor, ein Niemand ohne jegliches Vermächtnis zu werden“, erinnert sich die 26-jährige Karina, eine ehemalige Anhängerin des Alternativrocks. Im Jahr 2007 hatte sie ihre eigene Band. „Wir zahlten 150 Rubel (damals etwa drei Euro) pro Stunde, um in einem rauchverhangenen Pappstudio zu spielen, wo die Mikrofone und Verstärker einem Elektroschocks verpassen konnten“, sagt sie lachend.

„Damals war die Internetnutzung rationiert. Man musste eine Karte kaufen, um für maximal vier Stunden ins Internet zu kommen. Wir nutzten es, um die Texte englischer Lieder auszudrucken. Wir verehrten Bands wie Linkin Park und Limp Bizkit“, sagt Karina, die heutige Visagistin. „Ich habe natürlich nicht verlernt, Gitarre zu spielen, aber ich singe oder spiele für niemanden mehr, weil es mir zu peinlich ist.“

2007-Kult

Es gibt eine Theorie, dass Jugendsubkulturen, im eigentlichen Sinne des Wortes, verschwunden sind und Gothics und Emos durch Freiwillige und Tierschützer ersetzt wurden. In Russland ist die Generation Y mit anderen Dingen beschäftigt. „Wir reden über Geschlechterrollen, Xenophobie, Patriotismus in Verbindung mit der Krim und eine gesunde Lebensweise. Letztere ist besonders wichtig“, resümiert (rus) Jelena Omeltschenko, die an der Hochschule für Wirtschaft in Moskau Subkulturen erforscht hat.

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„Es gibt aber auch die Theorie, dass diese Subkulturen nie wirklich ausgestorben sind. Wir haben sie lediglich aus den Augen verloren. Auch wenn sie möglicherweise weniger bekannt sind, Anhänger gibt es noch immer“, sagt Nikolai. „Ich besuchte mit meinem Freund John im Januar 2016 in Moskau ein Konzert von Jane Air, einer unter Emos beliebten russischen Rockband, und direkt neben uns war eine Gruppe echter Emos mit genau denselben Piercings, langen Ponys, bunten Haaren und Fetzen! Es war wie eine Art 2007-Kult. Der einzige Unterschied war, dass John und ich nicht genauso aussahen, aber wir genossen das Konzert trotzdem wie in den guten alten Zeiten“, schließt Eduard ab.

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