318 € für einen Menschen: Wer wird wie in Russland zum Sklaven?

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JEKATERINA SINELSCHTSCHIKOWA
Eine Korrespondentin von Russland Beyond nahm an einem Polizeieinsatz zur Befreiung von Menschen aus der Sklaverei teil.

Mit einem kräftigen Ruck entkam sie den Händen des Einsatzkommandos. Die Gummilatschen rutschten von ihren Füßen und blieben an der Tür auf der Straße liegen. Sie rannte barfuß durch die dunklen Hinterhöfe. Ihre Kameradin tat es ihr nach – sie ergriff die Gelegenheit und floh aus dem Polizeiauto hinein in die Dunkelheit, alles passierte ganz schnell.

Bella schaut sich das Treiben durch die Windschutzscheibe an. Sie wurde aus derselben Wohnung wie die Ausreißerinnen gebracht. Aber anders als diese stieg sie pflichtbewusst ins Auto. Denn sie war es, die die anderen verraten hatte. Sie erzählte von dem Bordell mit Nigerianerinnen, in dem sie über einen Monat in sexueller Sklaverei verbracht hatte.

Verdammtes Voodoo

Südwestlich von Moskau: Hier stehen eintönige Hochhäuser mit menschenleeren Hinterhöfen. Bella und Joy – ein anderes Mädchen aus einem Bordell – lebten hier in einer nahegelegenen Straße. Sie schrieben einander SMS, trafen sich manchmal an ihrem Standort.

Bella wurde noch in Nigeria eine Arbeit in Russland angeboten. Welche genau, dass wurde ihr nicht gesagt, man versprach ihr jedoch, „dass alles gut sein wird“. Sie erhielt eine FAN-ID und konnte so in der visafreien Zeit während der Fußball-WM ins Land gebracht werden. Auf dem Moskauer Flughafen wurde Bella von ihrem zukünftigen Zuhälter in Empfang genommen, der ihr auch gleich den Pass abnahm. Sie wurde in eine Wohnung gebracht, in der andere Mädchen aus Nigeria bereits seit mehr als drei Jahren lebten. Für die Reise in die Freiheit wurden ihr 55.000 US-Dollar in Rechnung gestellt, die sie mit Prostitution abarbeiten sollte. Ihr wurde gedroht und erklärt, dass sie Probleme bekäme, sollte sie versuchen, die Polizei zu kontaktieren.

Bei Joy wurde eine andere Masche praktiziert: In Nigeria besuchte sie Voodoo-Zeremonien. Auf einer von ihnen wurde sie „verflucht“. Um den Fluch zu entfernen, sollte sie bezahlen. Und ihr wurde auch gleich eine Lösung angeboten, den „Betrag“ in Russland ganz schnell „abzuarbeiten“.

Dann aber war es wie bei den anderen auch: Sie wurde nach Moskau gebracht, ihr wurde mitgeteilt, wie hoch die „Schulden“ waren, jeden Tag wurde sie mit dem Taxi zum „Standort“ an der Autobahn gefahren und ihr wurde mit der Vernichtung ihres Reisepasses gedroht, sollte sie Probleme machen.

Ende letzten Sommers meldeten sich Joy und Bella freiwillig bei Alternativa, einer russischen Organisation, die sich der Befreiung von Menschen aus der Sklaverei verschrieben hat, und baten darum, sie und die anderen Mädchen herauszuholen. Joy wurde zuerst befreit, Bella eine Woche später.

Wie kauft man einen Menschen?

Die Zahl der Personen, die bisher in Russland in die Sklaverei geraten sind, wird von der Anti-Sklaverei-NGO Walk Free auf etwas über eine Million geschätzt. Im Global Slavery Index (eng) belegt Russland Platz 64. Russland selbst führt keine eigene Statistik in diesem Bereich.

„Es mag uns komisch erscheinen: Wie kann man an einen Voodoo-Fluch glauben? Einige Zuhälterinnen schüchtern die jungen Frauen damit ein, dass ihr Ehemann ein Freund Putins ist. Und das funktioniert auch. Die Mädchen sind ungebildet, sie wissen zum Beispiel nicht, dass ein Reisepass neu ausgestellt werden kann und Voodoo Unsinn ist“, sagt Oleg Melnikow, der Direktor von Alternativa.

Laut Oleg ist die sexuelle Ausbeutung, wie im Falle der Nigerianerinnen, nur ein Teil der Sklavenindustrie – Sklaverei ist weitaus vielfältiger. Leute aus der Provinz fahren in die Megapolen auf der Suche nach Arbeit. Selbst für eine Unterkunft haben sie meistens kein Geld. Ein paar Tage sitzen sie auf dem Bahnhof herum und lesen Stellenanzeigen. Dann kommt ein Schlepper auf sie zu und bietet eine Stelle „im Süden“ an. Besondere Fähigkeiten würden nicht benötigt, der Job sei gut bezahlt.

Der Mann stimmt zu. Er wird angeboten, den „Vertragsabschluss“ mit Alkohol zu feiern. Der allerdings enthält K.O.-Tropfen und das Opfer schläft zwei Tage lang. Er wacht irgendwo in Dagestan in einer Fabrik auf, ohne Ausweis und Mobiltelefon. Wenn derjenige gehen will, wird ihm erklärt: „Du bist gekauft worden. Entweder du bezahlst oder du arbeitest.“

„Sie denken, dass sie einen Monat arbeiten müssen und dann freigelassen werden. Aber nach einem Monat wird ihnen gesagt, sie haben einen Sack Zement oder ein Schaf „verloren“, und außerdem schulden sie noch Geld für die Verpflegung und so weiter. Wenn jemand versucht zu fliehen, wird er in der Regel gefasst, geschlagen und zur Arbeit zurückgeschickt“, sagt Oleg.

Er nennt die Preise. Ein Arbeitssklave kostet 25.000 Rubel (325 €); für ein Mädchen zur Erbringung von Sexdienstleistungen müssen 150.000 - 200.000 Rubel (€ 1.950 – 2600 €) berappt werden. Ein Rollstuhlfahrer oder eine ältere Frau werden für 50.000 Rubel (650 €), ein Baby für 150.000 Rubel verkauft. Letzteres wird zum Betteln benötigt.

„Eine ältere Frau, die in ihrer Jugend das Augenlicht verloren hatte, lebte allein in Lugansk (in der Ukraine). 2012 kamen sie zu ihr und boten ihr an: „In Russland gäbe es ein Programm zur Wiederherstellung der Sehkraft. Es bestünde eine Möglichkeit dorthin zu fahren“, erzählt Oleg. „Sie wurde nach Moskau gebracht, ihre Augen wurden zugenäht und sie musste in der Nähe des Kursker Bahnhofs sitzen und betteln. Je mehr ihre Augen eiterten, desto mehr Geld bekam sie.“

Allen kann man nicht helfen

In der Nacht nach der Razzia im nigerianischen Bordell wurden nur drei von den Betroffenen auf die Polizeiwache gebracht. Bella, eine der „Ausreißerinnen“ (die andere wurde nicht gefasst) und ein Zuhälter. Nachbarn berichten [über den Zuhälter des Bordells], dass er Journalist sei und an einer Moskauer Universität arbeite. Wie sich herausstellte, „löst“ er alle operativen Probleme des Bordells: Er zahlt Bestechungsgelder, verhandelt mit der Polizei, organisiert den „Wachschutz“.

Die Aktivisten behaupten, dass alles von Stadtbezirk abhinge – nicht alle Polizisten seien so. Bella hatte einfach nur Pech, aber irgendwo wird solchen Menschen auch geholfen.

Die Aktivisten von Alternativa bezeichnen die Gesetzgebung in diesem Bereich in Russland „unausgegoren“. „Und wenn jemand aus dieser Gefangenschaft befreit wird, was soll er dann tun? Niemand nimmt sich diesen Menschen in entsprechenden Zentren an, weil es solche Zentren in Russland nicht gibt. Im besten Fall kehrt die Person dorthin zurück, wo sie herkam. Sie werden vor Gericht geladen [um als Zeuge auszusagen], aber sie können nicht anreisen und der Fall wird abgeschlossen“, beklagt sich Melnikow.

Die Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation, Tatjana Moskalkowa, reagierte nicht auf die Anfrage von Russia Beyond. Auch das russische Innenministerium hat sich nicht zum Problem der Sklaverei und deren Bekämpfung geäußert und lediglich eine Statistik zu Strafverfahren vorgelegt. Glaubt man dieser, so gab es 2017 in ganz Russland gerade einmal sechs Fälle von „Ausnutzung von Sklavenarbeit“; beim „Menschenhandel“ waren es 21 Fälle. Unter dem Paragraphen „Entführung einer Person“ wurden letztes Jahr 374 Fälle abgeschlossen, bei der „Ungesetzlichen Freiheitsberaubung“ waren es 458. Insgesamt waren 859 Fälle mit den Opfern der modernen Sklaverei verbunden.

Eine Woche später sitzt Joy auf dem Rücksitz eines Autos und wird zu ihrem vorübergehenden Zuhause gebracht – die nigerianische Diaspora gewährte ihr Unterkunft, bis alles geregelt war. Sie will nach allem, was passiert ist, nicht wieder nach Nigeria zurückkehren. Sie erkundigt sich, wie man einen russischen Ehemann finden kann. Die Aktivistin, die am Steuer sitzt, erklärt ihr: „Wenn du in Russland bleiben willst, lerne selbst zu überleben“.

In den vergangenen sieben Jahren hat Alternativa etwa eintausend Menschen befreit. Für ein Land wie Russland sei das nicht viel, glaubt man in dem Verein. Die Zahl der Anrufe bei der Hotline ist um ein Vielfaches größer. Es fehlt das Geld, denn Alternativa erhält keine staatlichen Zuschüsse. 100.000 Rubel (ca. 1.320 €) pro Monat werden durch Spenden aufgebracht – das sind etwa 5 % des monatlichen Bedarfs. Für die einen muss ein Ticket in die Heimat gekauft werden, andere benötigen medizinische Versorgung oder Verpflegung. Mit Spenden bekommt man so viel Geld nicht zusammen. Deshalb stammt fast das gesamte Budget aus Melnikows Unternehmen (mehrere Fabriken und Hotels). Aber allen kann man nicht helfen – dafür reicht das Geld nicht.

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