Beim Einbruch der Dämmerung beginnt Walentin Chagdajew mit den Vorbereitungen für sein Ritual. Für viele ist er der oberste Schamane der Baikal-Region. Er selbst hält sich für den wahren Führer der Welt des Spiritualismus, der umgeben ist von Scharlatanen.
Eine Stunde bevor das Ritual beginnt, mit dem die Seelen meiner Vorfahren herausbeschworen werden sollen, um mich im kommenden Jahr zu beschützen, sitzt Chagdajew in seiner Küche und spricht über den modernen Schamanismus. „Ich traue den Neo-Schamanen nicht. Sie sind Showmenschen”, sagt er. „Ein echter Schamane muss einen zusätzlichen Knochen haben, als Zeichen des Himmels.” Er hat tatsächlich sechs statt nur fünf Finger an seiner rechten Hand. „Ein echter Schamane fragt auch nicht nach Bezahlung. Er nimmt, was immer ihm angeboten wird, auch Essen.”
Walentin Chagdajew
Arkadij Sarubin/WikipediaEr nennt keine Namen, aber es ist allen klar, dass er mit seiner Kritik vor allem Michail Ogdonow treffen will, einen anderen sehr berühmten Schamanen auf der Insel.
Walentin behauptet, dass er in Trance mit den Toten kommunizieren, in die Zukunft schauen und die Probleme von Menschen mit einem Blick erfassen könne. „Der traditionelle Schamane vereint in seiner Person einen Priester, der Rituale vollzieht, einen Wahrsager, der in die Zukunft blickt, und einen Medizinmann, der Krankheiten behandelt”, sagt er. Chagdajew erzählt, dass er von den Ältesten zum Schamanen geweiht worden wäre, nachdem der letzte Schamane aus seiner Familie verstorben war: „Jeder weiß, dass mein Großvater ein Schamane war”, stellt er klar. „Die neuen Schamanen kaufen sich ihren Status einfach”, kritisiert er.
Der bereits erwähnte 50 Jahre alte Michail Ogdonow erzählt, er sei durch die „schamanische Krankheit” zum Schamanen geworden. „Ich hatte einige schreckliche Unfälle. Auf mich wurde geschossen und ich wurde mit einem Messer angegriffen”, berichtet Ogdonow.
Bevor er im Alter von 38 Jahren zum Schamanen wurde, war Ogdonow Polizist. Die Gefahren seines Berufes liefern womöglich die rationale Erklärung für all die schwierigen Situationen, die er erlebt hat, doch er besteht darauf, dass dies die „schamanische Krankheit” gewesen sei.
Michail Ogdonow
Aus dem persönlichen ArchivEs ist eine weitverbreitete Annahme auf der Insel, dass gewöhnliche Menschen gar nicht den Wunsch verspüren, ein Schamane zu werden. Es gebe einige wenige „Auserwählte”, die zu diesem Weg gezwungen würden, indem die Geister sie mit Problemen und Krankheiten plagten, bis sie ihre wahre Bestimmung erkannt und akzeptiert haben.
Auch Ogdonow glaubt, dass er in Trance verfallen und mit den Vorfahren in Kontakt treten könne, dass er Flüche und Zaubersprüche aufheben könne. Er ist davon überzeugt, Krankheiten heilen zu können, sogar Krebs und er meint, böse Geister austreiben zu können.
Er hält sich für einen Abkömmling der „Ongons” (Geister der Vorfahren). Er wurde nach einem drei Tage dauernden Ritual in der Wüste zum Schamanen, währenddessen er in Trance fiel und einen Schafbock opferte. Er hegt eine Abneigung gegen Chagdajew, den er seinerseits beschuldigt, die Touristen auszunehmen, die die Insel überrennen, und zwar weniger wegen der unberührten Natur des Baikal, sondern wegen der mystischen und jenseitigen Ausstrahlung des Ortes.
„Gib dem Hund etwas Brot, dann laufe zum Laden. Kaufe Dosenfleisch, Wodka, Milch, Zigaretten, Butter und Tee”, befiehlt mir Chagdajew.
Die Angestellte im Laden stellt mir alles zusammen, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ist es für ein Ritual?”, fragt sie wissend. Viele Leute kommen mit genau dieser Einkaufsliste in das Geschäft neben Chagdajews Haus.
Dieser wartet auf der Veranda des kleinen Holzhauses, das er extra für seine schamanischen Rituale gebaut hat. Er ist gekleidet wie ein Schamane: in einem rot-blauen Gewand, mit einem Reflektor um den Hals, der negative Energien und böse Kräfte abhalten soll, in der Hand eine Schamanentrommel, die verziert ist mit Bildern von Tieren, Vögeln, Menschen, Bäumen und Himmelskörpern.
Wenn das Feuer im Ofen hell lodert beginnt das Ritual. Chagdajew stellt drei faustgroße Steine auf die Abdeckung des Metallofens, so dass sie ein umgekehrtes Dreieck bilden und streut einige getrocknete Kräuter darüber.
„Zuerst rufe ich die Geister des Feuers an, dann die Geister meiner Vorfahren und schließlich den göttlichen Schöpfer”, erklärt er. „Wenn ich am Ende das Wort ‚sok‘ sage, verschränke deine Hände, lege sie auf deine Stirn und sage drei Mal: Hey churi! Hey churi! Hey churi!"
Dann ruft er die Geister des Feuers an: „Hey cherchan! Hey cherchan! Hey cherchan!" Das Knistern des Feuers begleitet den Gesang. Zigaretten, Tee und Butter gehen mitsamt ihrer Plastikverpackung in den Flammen auf. Auch das Konservenfleisch, das mit einem schmutzigen Löffel aus der Dose genommen wurde, landet im Feuer: Die Geister nehmen die Gaben an.
Walentin Chagdajews Jurte
Nikolaj SchewtschenkoWenn der Schamane dann Wodka in die Flammen gießt, entsteht eine beeindruckende Flamme, die bis zum Dach der Hütte reicht. Der hypnotische Gesang des Schamanen, der monotone Klang der Trommel und der Duft der geheimnisvollen Kräuter öffnen dem Wahrheitssuchenden das Tor zur spirituellen Welt. Chagdajew wandert im Uhrzeigersinn um den Ofen herum. Dann, ganz plötzlich, hält er an, dreht sich um und sagt: „Das macht 3 000.”
Diese unerwarteten Worte holen den Suchenden umgehend auf den Boden der Realität zurück. Chagdajew schwenkt die von mir geopferten Banknoten über dem Feuer bevor er sie in seiner Geldbörse verstaut. „Die Geister haben Deine Gabe angenommen” sagt er mit einem Brustton der Überzeugung. Und damit ist das Ritual beendet.
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