Essen aus der Mülltonne: Russen erzählen von ihrem Leben als „Freeganer“

Lifestyle
KSENIA SUBATSCHJOWA
Die meisten Leute würden abgelaufenes Essen aus der Mülltonne wohl verschmähen, auch wenn es noch absolut genießbar ist. Anders die sogenannten „Freeganer“. Sie nehmen sich die abgelaufene Nahrung anderer, um Geld zu sparen oder um eine nachhaltigere Lebensweise zu fördern.

Zwei Dutzend Eier, sechs Packungen Mozzarellakäse, ein paar Flaschen Milch, etwas Joghurt, Gurken, Orangen, Bananen und Äpfel. Das ist nur ein Teil der Dinge, die der 23-jährige Mechaniker Dmitri auf seiner letzten „freeganen“ Tour durch Moskau gesammelt hat.

„Wenn ich Zeit dazu habe, durchforste ich jeden Tag die Mülltonnen nach Essen. Es gibt einige geeignete Orte in meiner Gegend. In den Supermarkt gehe ich nur, wenn ich Salz, Pfeffer oder andere Gewürze brauche“, sagt er.  

Dmitri ist ein sogenannter Freeganer. Das Wort setzt sich zusammen aus englisch „free“ für „kostenfrei“ und „-ganer“, so wie in „Veganer“. Freeganer suchen lieber in Abfällen nach Nahrungsmitteln, anstatt sie zu kaufen. Viele tun dies, um ein Zeichen gegen die ihrer Meinung nach zu konsumorientierte Lebensmittelindustrie zu setzen.

Daten der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft besagen, dass jedes Jahr rund 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel weggeworfen werden (eng). Fast ein Drittel der für den Menschen produzierten Nahrung. In Westeuropa und Nordamerika wandern jedes Jahr zwischen 95 und 115 Kilogramm Lebensmittel pro Person in den Mülleimer, in Russland ist dieser Wert mit 56 kg pro Person pro Jahr etwas niedriger. Nach Informationen des Föderalen Statistikdienstes Russlands sind das zwischen 20 und 25 Prozent (rus) der gekauften Lebensmittel.

Die freegane Bewegung begann in den 90er-Jahren in den USA als Gegenentwurf zu mangelnder Nachhaltigkeit und Konsumismus. In Russland ist sie ein relativ neues Phänomen, weswegen es auch schwierig ist, die Anzahl der freegan lebenden Russen zu schätzen. Was man jedoch sagen kann, ist, dass Social-Media-Seiten zum freeganen Lebensstil zahlreiche Follower haben, vor allem in den großen Städten wie Moskau, Sankt Petersburg und Jekaterinburg. Wie Dmitri teilen viele Freeganer Bilder ihrer Ausbeute, Tipps und Rezepte sowie Orte, an denen sich ein Durchsuchen der Mülltonnen lohnt.

“Es begann 2015“, erinnert sich Dmitri. „Ich wollte nach Sotschi und reiste das erste Mal in meinem Leben per Anhalter. Andere Tramper erzählten mir vom Freeganismus. Ich hatte kein Geld und lebte in einem Zelt am Strand. Also entschied ich mich, es auszuprobieren.“

Protest oder Überleben?

Während manche Leute sicherlich angeekelt von der Vorstellung sind, abgelaufenes Essen zu sammeln, hat Dmitri eigentlich gute Erfahrungen gemacht. Weder seine Freunde noch die Ladenbesitzer, deren Mülltonnen er durchforstet, haben ihn bisher verurteilt.

„Meine Freunde und meine Familie unterstützen mich. Manchmal teile ich sogar mit ihnen, was ich finde. Ich kenne viele andere Freeganer. Es ist verständlich, dass viele Menschen Interesse daran haben, Lebensmittel umsonst zu bekommen“, meint er.

Natürlich sind es, gerade in Russland, oft auch finanzielle Nöte, die die Leute zum Freeganismus bringen. Auch ältere Menschen gucken oft in Mülltonnen hinter den Supermärkten. Sergej, ein Rentner aus Sankt Petersburg erzählt: “Manchmal finde ich Brot oder Gemüse. Letztens sah ich eine Packung Mandarinen. Jemand hatte sie weggeworfen, doch ich konnte sie nicht tragen. Mein Zuhause war zu weit weg.”

Maria, eine 29-jährige Freelancerin aus Moskau, wurde vor drei Jahren ebenfalls aus wirtschaftlichen Gründen Freeganerin. „In dieser Zeit musste ich viel für die Renovierung meines Appartements ausgeben, hatte aber keine Aufträge. Die vielen Rechnungen zwangen mich, am Essen zu sparen. Ich sah einen Film über Freeganismus und begann nach Leuten zu suchen, die es bereits praktizierten. Ich traf eine junge Frau, die ebenfalls Geldprobleme hatte und wir gingen gemeinsam jede Woche zu den Mülltonnen von Supermärkten, um sie nach essbaren Lebensmitteln zu durchsuchen. Wir bekamen viele gute Produkte. Ich nahm nur Dinge, die eingepackt waren, oder die ich kochen konnte. Ich aß nie etwas roh,“ erinnert sie sich.

Als ihre Finanzlage sich besserte, beendete Maria ihre freegane Phase wieder. Sie sagt: „Wenn ich Zeit hätte, würde ich es weitermachen, aber in Russland ist es ziemlich unbefriedigend. Wenn etwas in die Mülltonne geworfen wurde, würde ich es nicht mehr essen. Selbst in den Regalen sieht man oft Produkte, die nicht mehr gut aussehen.“

Rechtliche Hindernisse  

Freeganer und manche Wohltätigkeitsaktivisten befürworten einen nachhaltigeren Umgang mit abgelaufenen Lebensmitteln und schlagen vor, sie Bedürftigen zur Verfügung zu stellen. Doch sind russischen Supermarktbesitzern durch das Gesetz die Hände gebunden.

Zu bestimmten Zeiten sahen sich Supermärkte gar gezwungen, abgelaufene, aber trotzdem noch essbare, Lebensmittel mit schmutzigem Wasser, Kohle oder Sodawasser absichtlich zu verderben, anstatt sie den Menschen zu geben. Nach russischem Recht ist die Weitergabe solcher Güter strengstens verboten (rus). Wer sie dennoch nicht wegwirft, muss mit Strafen zwischen 50 000 Rubel (690 Euro) und 150 000 Rubel (2 070 Euro) rechnen. Das Einzige, was Supermärkte tun können, ist, Produkte, die sich ihrem Ablaufdatum nähern, reduziert anzubieten.

Ein kleiner Lebensmittelladen in Jakutsk versuchte sogar, ein Regal mit kostenlosen Produkten für sozial schwache Kunden einzuführen. Doch das Experiment scheiterte. Besitzerin Olga berichtet (rus): „Gut gekleidete, wohlhabend aussehende Leute nahmen die Produkte für sich selbst mit. Sie verstanden einfach nicht, dass sie für die Armen bestimmt waren.“

Ähnlich lief es in Krasnojarsk, wo die Bedürftigen sich scheinbar schämten, die kostenlosen Lebensmittel zu nehmen, während andere Kunden sich geradezu um das Schnäppchen rissen. 

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