Juschak: Der gefährlichste Wind der Welt

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ANNA SOROKINA
Stellen Sie sich vor, Sie gehen vor die Haustür und ein heftiger Windstoß, der die schneebedeckte Straße entlangweht, erfasst Sie. Hut und Tasche können Sie nicht mehr halten. Sie selbst können sich nur helfen, indem Sie sich an einem Laternenpfahl festklammern und schon bald wie ein Stück Wäsche auf der Leine im Wind flattern, sofern Sie überhaupt genug Kraft haben, sich dem Wind entgegenzustemmen.

Die Bewohner der kleinen Stadt Pewek im Norden von Tschukotka kennen solche abenteuerlichen Momente. Hier weht das ganze Jahr über der Juschak, einer der stärksten Winde der Welt mit Geschwindigkeiten von 60 bis 80 Metern pro Sekunde.

Im Sommer ist das nur lästig, denn Staub und Sand werden von den trockenen Straßen aufgewirbelt. Doch im Winter kann er in der Kombination mit sehr niedrigen Temperaturen durchaus auch gefährlich werden.

Der nördlichste Wind

„Wenn es hier Bäume gäbe, würden diese entwurzelt”, ist Sergei Trunow aus Moskau überzeugt, der in Pewek im Transportsektor gearbeitet hat. „Bei der Landung mit dem Flugzeug sah ich erst die schwarzen Hügel. Nachts hörte man, wie die Fensterläden klapperten. Draußen war nichts zu sehen, aber zu hören war es: das Heulen des Windes. Das war meine erste Erfahrung mit dem Juschak”, erzählt er.

Die Einheimischen sagen, wenn über den Hügeln einige Tage lang bewegungslos Quellwolken hängen, ist dies ein sicheres Zeichen dafür, dass der Juschak kommt. Er bleibt ein paar Tage und verschwindet dann wieder. Der Wind ist sehr eigenartig. Mal bläst er auf einigen Kilometern und plötzlich hört er danach auf. Was bedeutet das? „Du kannst raus auf den Hof gehen und es ist dort absolut windstill. Doch sobald Du eine weite Fläche erreichst, packt Dich der Wind und Du fühlst Dich wie in einem Schraubstock”, sagt Sergei.

Pewek ist offiziell der nördlichste Punkt Russlands. Das Klima dort ist rau: der Winter, in dem das Thermometer auf bis zu -40°C sinken kann, dauert von Oktober bis Mai. Solche Temperaturen sind zwar für das nördliche Russland im Winter nicht so ungewöhnlich, doch in Pewek kommt noch der einzigartige Wind dazu. Er verdankt seine Entstehung den landschaftlichen Gegebenheiten. Die Stadt liegt am Fuße eines langen Hügels direkt an der Küste. Der Hügel trennt die Stadt von der endlos weiten Tundra. Dort nimmt der Wind an Fahrt auf, dann weht er über den Hügel und nimmt auf seinem Weg hinunter an die Küste den Schnee von den Gipfeln mit und trägt sie wie frostige Wellen hinunter.

Bei Windgeschwindigkeiten von 20 Metern pro Sekunde dürfen die Schulkinder zu Hause bleiben. Bei 30 bis 35 Metern pro Sekunde Windgeschwindigkeit schließen auch manche öffentlichen Einrichtungen. Doch das Leben in der Stadt geht dennoch weiter. Viele gehen wie gewohnt zur Arbeit oder treffen sich mit Freunden.

Kein Entkommen

Besonders gefährlich sind plötzlich auftretende Böen, die fünf bis fünfzehn Minuten andauern können. Das bedeutet, dass man sein Haus verlässt, während es noch windstill ist, um schon an der nächsten Straßenecke von einer Windböe erwischt zu werden. Wenn das passiert, ist es nicht leicht, sich auf den Beinen zu halten. Häufig endet es damit, dass eine Person, die in so eine Böe gerät, sich nur noch auf allen Vieren fortbewegen kann und nach dem Schutz der Hauswände suchen muss. Einige Leute schützen sich mit Gesichtsmasken vor Staub und kleinen Steinchen, die vom Wind aufgewirbelt werden. 

„Wenn man in so eine Böe gerät, sollte man sich etwas zum Festhalten suchen, damit man vom Wind nicht einfach die Straße entlang geweht wird”, empfiehlt Jewgenia, die mit ihrem Ehemann aus beruflichen Gründen von Wladiwostok nach Pewek gezogen ist. „Ich habe schon gesehen, dass Menschen, die sich an einer Stange festgehalten haben, wie ein Fähnchen im Wind flatterten, weil ihre Füße keine Bodenhaftung mehr hatten.” Der Juschak schafft es nicht nur, Menschen von den Füßen zu holen. „Ich habe sogar einmal gesehen, wie der Wind einen Kleinbus umgeworfen hat”, weiß Sergei zu berichten. Ein anderes Mal hat er beobachtet, wie ein Schiffscontainer die Straße entlangflog: „Vielleicht war er leer, aber es sah doch sehr beunruhigend aus.“

Zu Beginn eines jeden Schuljahres bekommen die Kinder ein spezielles Training, wie sie sich bei Juschak am besten verhalten sollten. „Auch zu Hause reden wir immer wieder über das, was passieren kann. Die Kinder sehen das aber auch selbst auf der Straße”, sagt Jewgenia. 

„Am schlimmsten ist es, wenn Dich der Wind in der Tundra erwischt”, warnt Jewgenia. „Innerhalb weniger Minuten sind die Straßen schneebedeckt und Du bist allein mit den Elementen. Es gibt keine Orientierungspunkte in der Tundra, alles ist weiß. In diesem Falle ist es das Beste, einfach an Ort und Stelle zu bleiben und abzuwarten, vorausgesetzt man hat ein Auto und genügend Benzin. Wenn nicht, bedeutet das den sicheren Tod.” Sergei erinnert sich noch gut daran, wie er einmal bei Juschak außerhalb der Stadt in der Tundra festsaß. Er war in einen Blizzard geraten, die Straße war nicht mehr zu erkennen: „In diesem Moment im Auto zu sein ist beängstigend. An den Fenstern rüttelt der Wind und es scheint, als würden jeden Moment die Scheiben bersten.” 

Stadt der Gänseblümchen und Romantiker

Zu Sowjetzeiten hatte die Stadt über 12 000 Einwohner. Es gab große Vorkommen von Gold, Quecksilber, Kohle und Uran. Doch infolge der Krise in den 1990er Jahren zogen immer mehr Menschen weg aus Pewek. Nun harren dort nur noch rund 4 000 Bewohner aus. Als dieser Punkt erreicht war, stoppte der Bevölkerungsrückgang. „Viele Leute sind hier geboren. Pewek ist ihre Heimat. Sie wollen nicht ins Innere des Landes ziehen”, weiß Jewgenia. In den Goldminen arbeiten überwiegend Leiharbeiter. In der Stadt wohnen vor allem noch Patrioten und Abenteurer. Die Löhne sind längst nicht mehr so hoch wie sie einmal waren. „Das Gute ist, dass man sich hier keine Sorgen um die Kinder machen muss. Es ist alles sehr übersichtlich und jeder kennt jeden”, so Jewgenia.

Für die Einheimischen ist Pewek die Gänseblümchen-Stadt und ein Ort für Romantiker. Im Sommer blühen hier Millionen weiß-gelbe Blüten und machen die Stadt unverwechselbar. Was Pewek mit anderen Städten des russischen Nordens gemein hat sind die schlechte Verkehrsanbindung an das restliche Russland, teure Lebensmittel und langsames Internet. Doch es gibt hier unglaublich schöne Aussichten von den Hügeln und traumhafte Nordlichter zu sehen. Diese Ansichten gibt es ganz umsonst.

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