Mein erster Eindruck von Russland, als ich 1991 hierher kam, waren die Trabentensiedlungen. Es stellte sich heraus, dass fast jede sowjetische Großstadt auf diese Weise gebaut wurde – mit Plattenbau-Hochhäusern am Stadtrand. Während der Reise hatte ich mir die Karte zum ersten Mal richtig angesehen: In meiner Vorstellung war die UdSSR sehr weit entfernt gelegen, aber es stellte sich heraus, dass es nur 1100 km von Berlin nach Minsk waren! Rom ist doppelt so weit weg, Madrid sogar dreimal!
In Köln trafen wir eine Gruppe von Belarussen, die sich für den Schutz von Kindern vor den Folgen der Tschernobyl-Katastrophe einsetzten, und die luden uns in die UdSSR ein. Damals, im Jahre 1991, brachten wir Medikamente und organisierten die Ankunft der deutschen Ärzte. Ich war überrascht vom herzlichen Empfang in Belarus und Russland – mir war bekannt, was die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs hier angerichtet hatten, und ich wartete unbewusst auf eine vorsichtige, um nicht zu sagen feindliche Reaktion. Aber meine Befürchtung erwies sich als unbegründet.
Öffentlicher Raum kontra Privatsphäre
Der öffentliche Raum hier ist ziemlich unpersönlich. Die Leute schauen sich nicht in die Augen. Im Treppenhaus wird man nicht gegrüßt, was in Deutschland nicht vorstellbar ist. Der öffentliche Raum wird vom Kampf dominiert: Die Menschen sind stets darauf vorbereitet, sich zu verteidigen, ob nun gegen Fremde oder den Staat, denn es „kann alles Mögliche passieren“. Sich zu verteidigen, ohne auf fremde Hilfe zu hoffen – das ist für viele Russen das Resultat einer bitteren historischen Erfahrung. Aber sobald man sich besser kennen lernt, sobald man den öffentlichen Raum verlässt und die Privatsphäre betritt, wird es interessant. Jetzt käme es niemandem mehr in den Sinn zu sagen, dass Russland ein unpersönliches und kaltes Land sei!
Beleidigung als Kommunikationsform
Russen sind oft eingeschnappt. Als ich nach Russland zog, war ich darauf noch nicht gefasst. Hier ist dies eine besondere Form der sozialen Kommunikation. Die Regel funktioniert auch umgekehrt: Wenn du willst, dass deine Gefühle in Russland ernst genommen werden, musst du beleidigt sein! Sogar auf der Arbeit. Dabei werden die Russen nicht nur durch Kritik oder mangelnde Aufmerksamkeit gekränkt, sondern eigentlich durch alles Mögliche. Aber mithilfe eben dieser Kränkungen drücken die Menschen hier ihre Gefühle aus. Und wissen Sie, was? Auch ich schnappe jetzt ein! Zuerst habe ich es bewusst gemacht, jetzt ertappe ich mich immer öfter bei dem Gedanken, dass ich dieses Verhalten nicht mehr kontrollieren kann.
Moskau kann man nicht lieben!
Meine Freunde sagen, ich hätte mich in einen Russen verwandelt. Warum sie das glauben? Ich fluche auf Russisch vor mich hin. Im Deutschen kann man einfach nicht so facettenreich schimpfen wie im Russischen. Die deutsche Schimpfwortsprache ist „vegetarisch“ im Vergleich zur russischen! Wenn Sie wirklich effektiv fluchen wollen, lernen Sie das russkij mat, die russische Schimpfwortsprache!
Meine Frau ist Russin und wir haben herausgefunden, dass mein Leben in Deutschland nicht zu 100 % auf Deutsch geregelt war, und ihrs in Moskau hatte europäische Züge. Jetzt kann ich nicht mehr ohne ein Stück Brot am Mittagstisch sitzen. In Deutschland wird es nur zum Frühstück oder Abendessen serviert, aber nie zu warmen Speisen. In Russland kommt Brot immer auf den Tisch. Auch die russische Trinkkultur ist inzwischen tief in mir verwurzelt. Zum Beispiel kann ich ohne einen Trinkspruch keinen Alkohol trinken. In Deutschland beginnt man häufig sofort zu trinken, nachdem eingegossen worden ist. Hier aber ist der Trinkspruch eine besondere Form der Verbundenheit der am Tisch Versammelten.
Ich lebe in Moskau, aber ich mag diese Stadt nicht. Es ist unmöglich, sie zu lieben: Sie ist zu groß, zu laut, zu aggressiv und verändert sich in einem rasanten Tempo. Gerade erst hat man angefangen sie zu mögen, und schon hat sie sich wieder verändert. Wie viele Menschen aus Westeuropa bevorzuge ich St. Petersburg. Dies ist keine Stadt der Realität, sondern eine Stadt der Träume – von Anfang bis Ende vom Menschen erschaffen.
Die Sprache liefert alle Antworten
Ausländer in Russland müssen darauf vorbereitet sein, dass ihnen ihr Englisch nicht hilft: weder im Alltag, noch beim Kennenlernen des Landes. Die Sprache liefert alle Antworten. Zum Beispiel das Wort obida [Beleidigung, Kränkung, Verdruss]. Im Russischen hat es mehrere Bedeutungen als im Deutschen und manchmal ist es schwierig, eine genaue Übersetzung zu finden. Zum Beispiel der Ausdruck Mnje sa derschawu obidno [Um das Land tut’s mir leid – Anm. d. Übersetzers] aus dem Film Weiße Sonne der Wüste (den ich übrigens allen Ausländern anzusehen empfehle). Wie lautet die genaue Übersetzung im Deutschen?
Hier macht man auch einen Unterschied zwischen prawda [objektiver Wahrheit] und istina [subjektiver Wahrheit] – im Deutschen gibt es dafür lediglich ein einzige Wort. Oder das Wort sanuda [Spielverderber, Langweiler, Nervensäge, Stiesel, Nerd]. Im Deutschen hat das Wort mehrere Bedeutungen! Natürlich gilt umgekehrt das Gleiche.
Es ist eine weitverbreitete Meinung, dass es schwierig sei, Russisch zu lernen. Das ist nicht ganz wahr. Man darf den Lernprozess nur nicht als etwas Kontinuierliches auffassen, sondern muss ihn als sinusförmige Kurve wahrnehmen: Manchmal verspürt man absolut keinen Fortschritt, und dann plötzlich, im Laufe einer Woche, macht man einen riesigen Sprung nach vorn. Ich erinnere mich, wie ich die Adverbialpartizipien gelernt habe – das war für mich eine Offenbarung: So elegant und kurz kann man seine Gedanken ausdrücken! Das Entscheidende ist, dass man nicht mit dem Lernen aufhört.
Der Mythos der „russischen Seele“
Ich lebe seit mehr als einem Vierteljahrhundert in Russland und werde oft gefragt, warum ich hier bleibe. Es gibt nur einen Grund – das sind die Menschen: meine Frau, meine Freunde und die Familie. Ich weiß gar nicht, wie ich meine Beziehung zu Russland beschreiben soll. Ich habe eine Beziehung zu konkreten Menschen, na und natürlich zur Politik.
Jeder redet von der mysteriösen russischen Seele, aber dieses Phänomen gibt es nicht! Genauso könnte man von der deutschen, französische usw. Seele sprechen. Die Menschen eines jeden Landes haben ihre eigenen nationalen Eigenschaften und eine individuell ausgeprägte Mentalität. Das Phänomen der „russischen Seele“ ist ein Durchschnitt der Komplexität und Vielfalt des russischen Volkes. Das ist wie der Mittelwert der Temperatur aller Patienten in einem Krankenhaus.
In Deutschland habe ich kürzlich das Buch 111 Gründe, Russland zu lieben veröffentlicht. Das ist mein Versuch, Russland den Deutschen zu erklären. Ich habe 111 Puzzlesteinchen verwendet, um ein Gesamtbild zu schaffen. In dem Buch geht es um Rezepte, Filme und die Bibel, um solche Phänomene wie die Verbrecherwelt und das Leben nach einem „Ehrenkodex“ sowie um das Verhältnis zwischen den Bürgern und der Obrigkeit.
Ich beginne das Buch mit zwei Überschriften: Ich liebe Russland, weil es so homogen ist und Ich liebe Russland, weil es so heterogen ist. Das klingt widersprüchlich, ist es aber nicht. Im Altai und in Moskau wird die gleiche Sprache gesprochen. In Deutschland braucht man in manchen Regionen nur 20 – 30 km zu fahren und wird bereits einen anderen Dialekt hören, eine andere Architektur erblicken und manchmal sogar andere Speisen vorgesetzt bekommen. In diesem Sinne ist Russland sehr homogen. Aber gleichzeitig leben in diesem riesigen Land mehr als 180 Nationalitäten, die Klimazonen erstrecken sich von der Tundra mit ihrem Permafrostboden bis hin zu den Subtropen. Diese Vielfalt und Einheitlichkeit zeichnen den nationalen Charakter aus.
Das Material wurde zusammengestellt von Daria Aminowa. Übersetzung aus dem Russischen.