Immer noch Literaturnation? – So viel lesen die Russen

Irina Baranowa
Einst war die Literatur das Herzstück des intellektuellen und kulturellen Lebens in Russland. Durch die Veränderungen des 21. Jahrhunderts hat sie diese Rolle jedoch teilweise verloren. Trotzdem lesen die Russen immer noch viel.

Einer Studie der GfK aus dem Jahre 2017 zufolge (eng) lesen 59 Prozent der Russen mindestens einmal die Woche in einem Buch – damit belegen sie weltweit Platz 2, direkt nach den Chinesen. Wie alle Umfragen muss man auch diese mit etwas Vorsicht genießen, aber wirklich überraschend wäre das Ergebnis nicht. Schon immer war die Literatur sehr wichtig für Russland. Der Schriftsteller Jewgeni Jewtuschenko schrieb einmal: „In Russland ist ein Poet mehr als nur ein Poet.“ Dasselbe gilt natürlich auch für Romanautoren.  

Nehmen wir zum Beispiel Leo Tolstoi: Nachdem der Autor sich im Jahr 1901 mit der russisch-orthodoxen Kirche und dem Zarenhaus anlegte und gleiche Rechte für alle forderte, sagte der Publizist Alexej Suworin: „Jetzt haben wir zwei Zaren. Nikolaus II. und Leo Tolstoi. Wer ist stärker? Nikolaus kann nicht an Tolstois Thron rütteln. Tolstoi aber an dem der Romanows.“  

Natürlich war Tolstois Fall besonders. Seit den 1880er-Jahren trat er mehr als Philosoph und öffentliche Persönlichkeit auf denn als Autor fiktionaler Romane. Aber auch andere literarische Superstars des 19. und 20. Jahrhunderts, darunter Fjodor Dostojewski, Iwan Turgenjew, Anton Tschechow oder Maxim Gorki, prägten die öffentliche Meinung mindestens genau so stark wie die Minister der Zaren. Zu dieser Zeit begann Russlands Literaturbesessenheit.

Leo Tolstoi

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Literatur statt Politik

„Vom 18. bis ins 20. Jahrhundert drehte sich das öffentliche Leben in Russland um die Literatur“, erklärt (rus) der Dichter und Literaturkritiker Lew Oborin. Während sich in Westeuropa Republiken und parlamentarische Monarchien durchsetzten, behielten die Zaren ihr Machtmonopol bei. Die einzige Möglichkeit, die herrschenden Zustände zu kritisieren, war die Literatur.

„Da es keine Politik im heutigen Sinne gab, wurden Schriftsteller Beschützer der Freiheit und fungierten als Aufklärer“, so Oborin. Um die Zensur zu überstehen, benutzten die Autoren Metaphern und Allegorien, um Armut, Leibeigenschaft und das eigenartige Pendeln der russischen Seele zwischen Ost und West zu beschreiben.

Die meisten Russen bekamen jedoch von den Gedanken ihrer Schriftsteller nichts mit. Sie konnten nicht lesen. Einer Volkszählung im Jahre 1913 zufolge (rus), waren damals noch etwa 60% der Russen Analphabeten. Erst die Sowjetregierung änderte dies.

Förderung durch die Sowjetregierung

Obwohl sie bei der Bekämpfung ihrer Rivalen ähnlich brutal waren wie vorher die Zaren, schafften es die Bolschewiki, das Bildungsniveau der Bevölkerung zu erhöhen. 1939 konnten bereits 87% der Sowjetbürger lesen und schreiben. Lesestoff war sowieso immer erhältlich.

In der Sowjetzeit wurde auch festgelegt, welche Bücher im Schulunterricht gelesen werden müssen: Puschkin, Tolstoi, Tschechow und so weiter. In abgewandelter Form gelten die Regelungen von damals noch heute. „Diese Autoren waren Kritiker der Zarenherrschaft. Die Sowjets vereinnahmten dies für ihre Ideologie, auch wenn nicht alle Autoren Sozialisten waren“, erklärt Oborin.  

Staatliche Kontrolle

Natürlich entschied der Staat, was veröffentlicht wurde. Russische Klassiker? Sicher. Nicht allzu provokative ausländische Literatur (Hemingway, Remarque, Salinger)? Okay. Aber natürlich auch die gesammelten Werke von Lenin, Marx und Engels oder auch Breschnews Memoiren, in denen er ausgiebig von seinen Fronterfahrungen im Zweiten Weltkrieg erzählt. Von letzteren wurden 1978 20 Millionen Exemplare verkauft.

Generell sparte die Sowjetunion nicht an der Literatur. In den 1980er-Jahren wurden Milliarden Bücher verkauft. „Insgesamt hatten die sowjetischen Haushalte 50 Milliarden Bücher zu Hause“, schreibt (rus) der Historiker Alexander Goworow in seinem Buch Die Geschichte des Buches. „Dadurch konnte sich die Sowjetunion die ‘belesenste Nation der Welt‘ nennen. Noch heute taucht diese Formulierung (rus) regelmäßig auf, in der Regel kombiniert mit etwas Sowjet-Nostalgie.“  

Das Problem war nur, dass es keine Auswahl gab. „Die Auflagen wurden immer größer, aber es ging an der Nachfrage vorbei. Die Leute wollten Unterhaltungsliteratur und Fiktion, aber der Staat produzierte hauptsächlich marxistische Bücher. Man kann also sagen, dass zwar genug Bücher produziert wurden, die aber aufgrund der ideologischen Verengung nicht das waren, was die Leute lesen wollten“, fasst Goworow zusammen. Kein Wunder, dass die Leute zunehmend forderten, lesen zu dürfen, was sie wollten.

Situation heute

Während der Perestroika-Ära bekamen sie ihre Chance. Seitdem ist der russische Buchmarkt wie jeder andere auch. Inzwischen lesen andere Nationen sogar mehr als die Russen. Selbst die GfK-Umfrage wird von einigen Vertretern der Verlagsindustrie angezweifelt.

„Die Verkaufszahlen für Bücher in Russland steigen momentan nicht“, meint (rus) Jelena Solowjowa, Chefredakteurin des Magazins Bücherindustrie.

Tatsächlich fielen (rus) die Verkaufszahlen in den letzten zehn Jahren sogar. Wurden 2008 noch 760 Milliarden Bücher gedruckt, waren es 2018 nur noch 432 Milliarden. Aufgrund des Aufkommens digitaler Bücher und des bisher nicht erfassten illegalen Büchermarkts sind diese Zahlen jedoch nur schwer einzuschätzen.

Dennoch kann man sagen, dass obwohl das Interesse der Russen an der Literatur momentan stabil ist, die Zukunftsaussichten nicht sehr ermutigend sind. Das Buch muss inzwischen mit Netflix, YouTube und Co. konkurrieren. Seine Siegchancen sind gering.

„Weltweit sinkt das Interesse am Lesen. Russland ist dabei leider keine Ausnahme“, gibt (rus) die Literaturkritikerin Galina Jusefowitsch zu. „Allerdings wurde in den letzten Jahren auch klar, dass es eine stabile Kernzielgruppe gibt, die niemals aufs Lesen verzichten würde.“

Komplett verschwinden wird das Buch also gewiss nicht.

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