Sadowod ist Russlands größter Straßenmarkt im Südosten von Moskau. Das Wetter ist heiß. Es riecht nach Schweiß, Würstchen und Aromaölen. Hier liegt das Königreich der Plastiktüten. Alle Einkäufe - in China gefertigte Kleider, Unterwäsche, Döner oder angeblich originale Kosmetik von Kim Kardashian - werden in Plastiktüten verpackt.
Zwischen endlosen Ständen mit Kleidern und Schuhen gibt es sogar einige kleinere Stände, an denen Plastiktüten mit den Logos bekannter Labels verkauft werden – von Chanel bis H&M. Sie flattern im Wind. Eine kleine, rundliche Mittvierzigerin überlegt, ob sie lieber eine Tüte von Fendi oder von D&G kaufen soll. Umgerechnet etwa 40 Cent wird sie bezahlen müssen.
„Wofür brauchen Sie eine Plastiktüte?", frage ich sie. „Ich nehme sie mit zur Arbeit und trage darin mein Mittagessen und einen Regenschirm. Die Dinge passen nicht in die Handtasche”, erklärt sie.
Ihre Handtasche ist kaum größer als ein Notizbuch. „Warum kaufen Sie nicht eine größere Handtasche oder nutzen eine Stofftasche?”, schlage ich ihr vor und ernte Verachtung: „Als nächstes wirst Du mir wohl einen Trolley vorschlagen”, schnaubt die Dame und zieht mit ihrer soeben erworbenen D&G-Plastiktüte von dannen.
Die Verkäuferin erzählt mir, dass gefälschte Plastiktüten bekannter Labels ebenso beliebt seien wie deren gefälschte Produkte. Zudem würden diese Tüten häufig als Geschenkverpackung genutzt.
„Was ist mit der Umwelt?”, melde ich Bedenken an. „Was soll mit der Umwelt sein? Den Leuten ist es halt wichtiger zu verbergen, dass sie sich keine teure Kleidung leisten können”, klärt mich die Verkäuferin auf.
Umweltschutz ist zu teuer
Nach einer Umfrage des Russischen Zentrums für Öffentliche Meinungsforschung (WZIOM) sind zwar 85 Prozent der Russen grundsätzlich bereit, die Verwendung von Plastiktüten ganz oder teilweise aufzugeben, doch das Ende des Konsums ist noch lange nicht in Sicht.
Für die Russen ist dies vor allem eine Frage der Gewohnheit und Zweckmäßigkeit. „Plastiktüten können als Mülltüten genutzt werden. So muss man keine Eimer auswaschen wie früher”, sagt Jewgenija Subowa, eine 35-jährige Friseurin.
Häufig werden Mehrwegtaschen beim Einkauf auch einfach zu Hause vergessen und es wird wieder eine Plastiktüte gekauft, um die Einkäufe darin zu verstauen. „Wir haben viele Einkaufsnetze zu Hause. Aber wenn wir spontan unterwegs einkaufen, dann nehmen wir eine Plastiktüte”, erzählt Polina Schuschman.
Ein weiteres Problem bei der Umstellung auf Papier- oder Mehrwegtüten sind die hohen Kosten dafür, erklärt der 22-jährige Student Eduard Klitschnikow. Sie sind viel teurer als Plastiktüten.
Irina Tichonowa, eine 50-jährige Sekretärin aus Moskau, nutzt die günstigen Plastiktüten so lange, bis sie kaputt sind. „In der Sowjetunion wurden alle Produkte, auch Butter, in Papier verpackt und zwar kostenlos. Nun muss man richtig viel Geld für Öko-Verpackungen bezahlen. Bei diesen Kosten sage ich zur Hölle mit der Umwelt”, ärgert sie sich.
Mehrwegbeutel auf dem Vormarsch
Sofia Logwinowa, eine Aktivistin der Umweltbewegung „Waste Sorting“ (Mülltrennung), ist überzeugt, dass die Menschen nicht genug über die schädlichen Auswirkungen von Plastiktüten auf die Umwelt wissen. „Die hunderte von Plastiktüten, die eine Person pro Jahr nutzt, brauchen 200 bis 300 Jahre, um zu verrotten. Das beeindruckt bereits manche sehr und regt sie zum Nachdenken an. Andere wiederum denken erst nach, wenn sie etwas über Mikroplastik erfahren oder dass Coca-Cola pro Minute 200 000 Plastikflaschen produziert”, sagt sie.
Vor zwei Jahren ersetzte Dina Chitrowa aus Jekaterinburg ihre Plastiktüte, die mit alten Plastiktüten gefüllt war, durch eine Mehrwegtasche voller kleinerer Mehrwegtaschen aus Stoff. Sie hat sie selbst genäht. „Ich kaufe auch häufig in kleinen Läden Gemüse, Obst, Brot und lasse es direkt in meine kleinen Taschen verpacken. Ich bin bereits eine lokale Attraktion, die Leute wollen wissen, woher ich diese kleinen Taschen habe”, berichtet sie.
Auch praktische Vorteile der Stoffbeutel würden diskutiert: „Das Essen hält darin wahrscheinlich länger und die Waren schwitzen nicht”, schreibt Dina auf Facebook. Sie hat den Eindruck, dass viele Menschen ihrem Beispiel gerne folgen würden. „In Russland ist das Thema noch nicht so populär. Aber vielleicht werden auch hier immer mehr Menschen auf Öko-Taschen umsteigen. Es ist wichtig, mit gutem Beispiel voran zu gehen”, ist sie überzeugt.
Große russische Supermärkte unterstützen die Idee, auf Plastiktüten zu verzichten. Ende Mai 2019 startete Pjaterotschka den Verkauf von wiederverwendbaren Stoffbeuteln und Papiertüten in den großen russischen Städten. Supermärkte wie WkusWill, Auchan und Asbuka Wkusa nehmen nun Geld für Plastiktüten und wollen die Kunden so zum Umstieg auf Mehrwegtaschen bewegen.
Im April schlug die Staatsduma ein Verbot von Plastiktüten in Russland ab 2025 vor.