Ist Russland ein europäisches Land im wahrsten Sinne des Wortes? Zweifellos. Und das nicht erst seit der Zeit von Peter dem Großen - sondern seit dem Moment, in dem die russische Kultur einen indirekten Einfluss auf die Entwicklung Europas ausübte, indem sie den Angriff des Mongolen Batu Khan auf den Westen aufhielt. Die Mongolen erreichten 1241 Ungarn und waren kurz davor, auch die Grenzen zum Heiligen Römischen Reich zu überschreiten. Doch Batus Armee war verstreut über das ausgedehnte Territorium der Rus. Die Rus hatte sie gleichsam verschluckt. Die mongolischen Krieger waren ihrer Macht beraubt. Das sollten später auch Napoleon und Nazideutschland erleben.
Aus dem Film „Mongole“
Sergei Bodrow senior/STW, 2007Aber Größe ist genau der Faktor, der auch stets Risiken für das Land bereithielt. So viele, dass die Mongolen letztlich freiwillig verzichteten. Zu viele Städte waren zu weit verteilt - es wäre für die Tataren viel leichter gewesen, das Land von der Hauptstadt der Horde aus zu regieren, bevor die Fürsten der Rus sich vereinigten, um ihr Land zurückzuerobern. Jedes Fürstentum in Russland war etwa so groß wie Belgien oder Albanien.
Es war die Geografie, die es praktisch unmöglich machte, eine andere Regierungsform zu haben als die, die sich bis heute gehalten hat. Wegen der großen Entfernungen zwischen den Fürstentümern war es immer eine große Herausforderung, vom Zentrum aus zu regieren. Wir sind es gewohnt, Ländergrößen von außen zu betrachten. Schauen wir uns nun einige Beispiele an, wie Russland von innen betrachtet ausschaut.
Bote aus dem 16. Jahrhundert
Wjatscheslaw SchwarzIm 15./16. Jahrhundert betrug die durchschnittliche Entfernung zwischen den Poststellen im Fürstentum Moskau 45 bis 110 Kilometer. Wenn Briefe von Moskau nach Europa geschickt wurden, dauerte es bereits einen Monat, bis die eigenen Landesgrenzen erreicht waren. Ein regulärer Postdienst, den jeder Zivilist in Anspruch nehmen konnte, wurde erst im 19. Jahrhundert eingerichtet, und Pakete verließen das Amt zweimal pro Woche.
Im ersten Viertel des Jahrhunderts dauerte die Reise von Moskau nach St. Petersburg mindestens zwei Tage. Oder insgesamt sechs Tage, wenn Sie mit einem langsamen Wagen gereist wären, den Sie bei der Post mieten konnten. Die Pferde legten täglich zwischen 110 und 160 Kilometer mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 12 bis 15 km/h zurück und benötigten Ruhezeiten. Zu diesem Zeitpunkt umfasste das Land bereits ein Gebiet von Chabarowsk bis zur europäischen Grenze. 1805 hat Graf Fjodor Tolstoi für die Rückreise aus dem Fernen Osten nach St. Petersburg zu Fuß und zu Pferde ein ganzes Jahr gebraucht!
Postkutsche aus dem 19. Jahrhundert
gemeinfreiWas hat das staatliche System mit all dem zu tun? Nun, wenn Sie eine Situation haben, in der es ein ganzes Jahr dauert, bis eine offizielle Nachricht oder ein Dekret die entlegensten Ecken des Landes erreicht, bleibt nichts anderes übrig als in den fernen Regionen eine lokale Regierung einzurichten, die zaristische Anordnungen umsetzt. Doch Sie können sich sicher vorstellen, dass diese lokalen Herrscher sich abhängig von ihrer Persönlichkeit und ihren Moralvorstellungen auch sehr große Freiheiten herausnahmen.
Der Historiker, Schriftsteller und Reichshistoriograph Nikolai Karamsin war der Meinung, dass der Erfolg der Regierung wesentlich vom Charakter der Gouverneure vor Ort abhinge. „Setzen Sie 50 rechtschaffene Gouverneure ein und es wird Fortschritt geben”, schrieb er. Vergleicht man das russische Staatssystem mit anderen Ländern, sollte man dabei stets die Größe Russlands berücksichtigen. Das Land ist 26-mal so groß wie Frankreich und 47-mal so groß wie Deutschland, diese beiden sind schon die „großen” Länder.
Nikolai Karamsin
Wassilij Tropinin/Tretjakow-GalerieManche sehen keinen Sinn darin, die Größe verschiedener Länder miteinander zu vergleichen, doch es ist ungleich schwieriger, ein großes Land zu regieren. Eine umfassende Reform zum Beispiel ist so gut wie unmöglich umzusetzen. 1861 wurde offiziell die Leibeigenschaft abgeschafft. Es sollte jedoch noch weitere 20 Jahre dauern, bis es auch in Irkutsk und Sibirien so weit war. Der Wandel brauchte Zeit, um am anderen Ende des Landes anzukommen.
Größe und Entfernung erhöhen auch die Kriminalitätsrate. Es ist leicht, in Russland unterzutauchen. Es gibt noch heute Orte, wohin sich nur selten ein Mensch verirrt. Wenn Sie mit dem Zug quer durchs Land reisen, brauchen Sie eine Woche. Es ist ein Paradies für Kriminelle. Die Gesetzestreuen bevorzugen es in oder zumindest in der Nähe von besiedelten Gebieten zu leben. Einsame Gehöfte oder einzeln stehende Häuser in der Wildnis sind eher die Ausnahme als die Regel. Sie haben die Wahl: Sie könnten dort Opfer eines Überfalls werden oder von Bären angegriffen werden.
Meilenstein
AlPanichRusslands Bauern hatten es auch sehr schwer, ihren Lebensunterhalt allein auf sich gestellt zu bestreiten. Von der Ernte hatte man mehr als Teil einer „Obschina“ (Gemeinde). Der Gemeinschaftssinn durchdrang alle Lebensbereiche, nicht nur bei den Bauern. Der russische Adel war ebenso angewiesen auf Gemeinschaften, gegenseitige Unterstützung und Zusammenarbeit. Es stellt sich also heraus, dass die Geografie in Russland sowohl das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerung als auch die Zentralisierung der Macht gefördert hat.
Dorfversammlung
Lasar ChnyginUnd was ist mit Individualismus? Was ist mit dem Streben des russischen Individuums nach Unabhängigkeit, das es sich auf die Fahnen geschrieben hat? Tief im Inneren sehnen wir uns nach Gemeinschaft und lieben Gesellschaft und die freundschaftliche Zusammenarbeit. Das nach außen gezeigte scheinbare Streben nach Unabhängigkeit des Geistes soll das ausgleichen.
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