Wie gehen russische Frauen mit Cat-Calling um?

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Ignorieren oder auf die Demütigung reagieren? Die Meinungen sind geteilt.

Die Straße ist mit Pappelflaum bedeckt, der sich an den Sandalen festsetzt. Alina, 14, hat eine Spiegelreflexkamera in der Hand. Zwischen ihrem Haus und dem Haus ihrer besten Freundin liegen 50 Meter. Die Männer, die eine Grube direkt vor dem Haus der Freundin graben, sehen den flatternden Saum ihres Rocks schon aus der Ferne.

„He, Schnitte, sollen wir das Küssen beibringen?“, schallt es ihr von einem der Arbeiter entgegen. Er ist etwa 30 Jahre alt. Die anderen pfeifen und kichern. Alina, geht kommentarlos an ihnen vorbei zum Hauseingang ihrer Freundin und klingelt. Leider ist niemand zu Hause.

„Schau nur, was für ein riesiges Teil sie umhängen hat - sie wird dir mit diesem Ding auf den Kopf schlagen!“

„Mir doch egal. Die ist garantiert noch unberührt. Die will’s bestimmt besorgt bekommen“, sagt der mutigste der Arbeiter und macht einen Schritt in ihre Richtung. In diesem Augenblick öffnet sich die Haustür und eine alte Frau kommt heraus, um den Müll rauszubringen. Alina stürmte wie ein Blitz hinein.

„Ich bin fast den ganzen Tag bei meiner Freundin geblieben. Eigentlich wollten wir zum Fotoshooting in den Park gehen. Stattdessen schauten wir aus dem Fenster und warteten darauf, dass die Männer weggehen“, erinnert sich Alina.

„Ich verstehe nicht, warum was sie erreichen wollten. Sie wollten sich wohl über mich lustig machen. Und ich weiß nicht, wie das geendet hätte, wenn diese alte Frau nicht gerade aus dem Eingang gekommen wäre“, sagt sie.

Frauen-Flash-Mob gegen das Cat-Calling der Männer

Ein solches Verhalten von Männern wird als Cat-Calling bezeichnet. Dazu gehört jede Belästigung auf der Straße, einschließlich des Hinterherrufens oder -pfeifens einer Frau. Um Menschen wie Alina zu unterstützen, wurde im russischsprachigen Twitter der Flash-Mob #mnje_ nuschna_glasnost (Ich will Öffentlichkeit) gestartet. Unter diesem Hashtag erzählen russische Frauen nicht nur über Fälle von Belästigung oder Vergewaltigung, sondern auch darüber, wie sie von Cat-Calling betroffen waren.

„Ich trage Männerklamotten, habe einen kurzen Haarschnitt und versuche, weniger feminin auszusehen. Aber ich habe immer noch Angst, dass betrunkenen Männer am spätabends mitbekommen, dass ich in Wirklichkeit eine Frau bin und ich ihr Opfer werde“, schrieb die Userin @SleepyFilin.

Eine andere Userin mit dem Nicknamen @anilumas teilte mit, dass ein fremder Mann in der U-Bahn versuchte, sie zu umarmen.

„Ich erst, gedacht, das läge am Gedränge, aber dann fing er an mich anzutatschen“, schreibt sie in ihrem Mikroblog.

Russische Männer wissen nicht, was öffentliche Distanz ist“, meint @limitsyi.

„Russland ist das widerwärtigste Land mit den widerwärtigsten Männern, die […]das Wort „nein“ von einer Frau nicht akzeptieren. Sie verspotten Vergewaltigungsopfer und nennen sie Flittchen, um sich selbst größer zu fühlen“, fasst sie den Flashmob zusammen.

„Im Rahmen des Gesetzes“

Eine schlanke Brünette mit roter Tolle spaziert im Park. Ein Mann fährt mit dem Fahrrad an ihr vorbei und klatscht ihr dabei auf den Po. Sie lässt sich nicht aus der Fassung bringen und reagiert sofort.

„Als ich begriff, was geschehen war, zog ich ihn mit einer Hand vom Fahrrad und schlug ihm mit der anderen ins Gesicht. […] Er war verwirrt und versuchte schnell zu entkommen, aber sein Bein wurde von seinem eigenen Fahrrad eingeklemmt. Ich schlug drei oder vier Mal zu und alle herum schauten nur zu“, erinnert sich die junge Frau. 

Dieser Tweet der Userin @alimaa97850758 entflammte eine Diskussion zwischen Frauen und Männern. Während die einen sie eine Heldin nannten, wunderten sich andere, dass sie so heftig reagiert hat.

„Er versetzte ihr nur einen Klaps auf den Po, aber sie verprügelte ihn. Das war völlig übertrieben. [...] Der Typ hat zwar falsch gehandelt, aber ich hoffe, dass wir dir später einmal auf die Füße fallen“, schrieb einer der Männer.

Auch andere Männer kritisierten den Flashmob. Ihrer Meinung nach sollte eine Frau sich überlegen, mit wem sie sich abgibt, oder die „bedeutungslosen Worte und Pfiffe“ ignorieren.

Auch Kirill, eine 36-jährige Programmiererin aus Moskau, teilt diese Meinung.

„Die Jungs in der in der Schule und an der Universität betrieben alle Cat-Calling. Um ehrlich zu sein, habe ich sie sogar bewundert. Ich hatte nie den Mut dazu“, erinnert sich Kirill. „Ich würde mich heutzutage nicht so verhalten, es ist schrecklich. Aber.... So was kommt halt vor. Solange das Cat-Calling nicht die Grenzen der russischen Gesetze überschreitet, sehe ich nichts Falsches daran.“

Ihm zufolge haben junge Frauen selbst das Recht zu entscheiden, wie es auf das Cat-Calling reagieren sollen. Und es sei durchaus möglich, dass es für eine Frau, die auf solche Avancen positiv reagiert, mit einer „ganz glücklichen und interessanten Beziehungen“ enden könne.

Punkt des geringsten Widerstands

Laut dem Psychologen Sergej Simakow greift ein Mann zum Cat-Calling, wenn er „keine Zeit hat“, eine Frau auf andere Weise zu kontaktieren. In diesem Fall nutzt er automatisch solche Kommunikationsmittel.

Das Cat-Calling sei jedoch eine Form der Gewalt, da der Mann ohne Erlaubnis in den persönlichen Bereich der Frau eindringt, sagt Simakow. Gleichzeitig gibt es in Russland kein Gesetz, das eine strafrechtliche Verfolgung wegen Belästigung vorsieht – eine Bestrafung kann nur wegen Vergewaltigung erfolgen. 

„Einige Frauen sind schüchtern und verängstigt. Und dieses ,Anmachenʻ kann ihnen ein für alle Male die Beziehungen zu Männern versperren. Experten nennen eine solche Situation das Entstehen eines ,Schmerzpunktesʻ oder ,Ortes des geringsten Widerstandsʻ“, erklärt Simakow.

Tatjana Dmitrijewa, eine Vertreterin der feministischen Gemeinschaft, sagt, dass sie mindestens einmal pro Woche mit Cat-Calling konfrontiert wird, von der Belästigung durch Passanten bis zu den Autos, die ihr hinterherhupen. Sie rät Frauen, nicht auf Cat-Calling zu reagieren oder sich höflich und distanziert zu verhalten, um keine Aggressionen zu provozieren.

Cat-Calling ist aus ihrer Sicht eine Form der Respektlosigkeit und die Voraussetzung jeder Gewalt es eben das Fehlen von Respekt.

„Cat-Calling ist immer eine Form der Respektlosigkeit, und jede Gewalt beginnt mit einem Mangel an Respekt“, sagt Dmitrijewa.

Die Erscheinung des Cat-Callings ist nicht nur in Russland anzutreffen – ein ähnliches Problem gäbe es auch in Frankreich und Italien, ist sich Dmitrijewa sicher. Russland ist jedoch im Prinzip eines der Länder, in denen es keinen Respekt vor Frauen gibt.

„Russland ist in dieser Hinsicht tatsächlich nicht das fortschrittlichste Land. Ist das ein ernstes Problem für uns? Ja. Aber gibt es in Russland Probleme, die ernster sind als das Cat-Calling? Ja“, schließt Dmitrijewa.

>>> Warum dulden Russen Belästigungen?

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