Musiktherapeuten helfen Menschen mit Autismus oder Schlaganfallpatienten aus der inneren Isolation

Stiftung
Musik beeinflusst gleichzeitig verschiedene Teile des Gehirns. Daher kann sie in das Bewusstsein eines Patienten vordringen, wenn alle anderen Ansätze gescheitert sind.

In einem Internat für Kinder mit besonderen Bedürfnissen spielt eine junge Frau auf einer Oboe. Vor ihr sitzt in einem Sessel ein etwa sieben Jahre alter Junge. Er blickt zu Boden, scheinbar reglos. Nun wechselt die Oboistin den Rhythmus, sie wird rockiger, wiegt sich im Takt dazu. Der Ausdruck des Jungen ändert sich. So verläuft eine musiktherapeutische Sitzung. Der Junge ist Autist. Der musikalische Dialog ist einer der wenigen Möglichkeiten für ihn, mit der Welt zu interagieren. 

Was ist Musiktherapie? 

Musiktherapie funktioniert, weil Musik so vielfältig ist, dass es in unserem Gehirn keinen einzigen Bereich gibt, der allein für ihre Wahrnehmung verantwortlich ist. „Musik kann ein starker Impulsgeber sein. Durch sie, so glauben Forscher, können verlorengegangene Fähigkeiten wiederhergestellt werden. Das Gehirn wird dabei seinen eigenen Weg finden. So können Schlaganfallpatienten zum Beispiel wieder das Sprechen lernen”, sagt Maria Pakosch (Iltschenko), Musiktherapeutin bei der Stiftung Schiwi Sejtschas (Lebe heute). 

Musik vermittelt außerdem ein Gefühl der Sicherheit. Sie hat einen klaren Beginn und ein klares Ende. Sie ist intuitiv erfassbar. „Manchmal ist Musik der einzige Weg, Menschen zu erreichen, die aufgrund psychischer oder neurologischer Erkrankungen in ihrer ganz eigenen Welt leben. Wir wissen nicht, ob es diesen Menschen in ihrer Welt gefällt oder nicht”, so Maria.  

Therapeutische Prinzipien 

Es gibt zwei wichtige Prinzipien in der Musiktherapie, erklärt Maria. 

1. Die Musik verfolgt keinen musikalischen Zweck 

„Ein Therapeut ist kein Musiker, er verfolgt andere Ziele. Es geht nicht um die Musik, sondern um die Interaktion. Ein wichtiger Unterschied zu einem Konzert ist, dass es bei einer musiktherapeutischen Sitzung keine Barriere gibt, wie eine Bühne. Wenn zum Beispiel eine ältere Frau mit Demenz auf einem Stuhl sitzt, werde ich mich vor sie knien, um auf Augenhöhe zu sein und Blickkontakt suchen.” 

2. Der Musiktherapeut ist der Spiegel des Patienten

Bei einer Sitzung setzen die Therapeuten immer Musik ein, die der Patient mag. Hier gibt es keine Regeln oder ein allgemeines Rezept. Die Inhalte einer Sitzung richten sich stets nach der Krankengeschichte und den Wünschen des Patienten. Je schwerwiegender zum Beispiel eine dementielle Erkrankung ist, desto weniger Worte macht der Therapeut. 

Es kommen verschiedene Techniken zum Einsatz, zum Beispiel Improvisation, Entspannungsübungen, Malen nach Klängen oder musikalisch unterstützte Bewegungsübungen. 

Wie arbeitet ein Musiktherapeut? 

Jede medizinische Behandlung beginnt damit, ein konkretes Ziel zu definieren. Beispiel: Sprachfähigkeit nach einem Schlaganfall wiederherstellen. Eines der globalen Ziele der Therapie ist jedoch, dass das Bewusstsein des Patienten gefördert wird. Oft sind auch die kognitiven Funktionen eingeschränkt, viele Betroffene haben Probleme, Entscheidungen zu treffen. Die Musiktherapie bringt den Menschen zurück in die Realität. 

Der Therapeut versucht herauszufinden, welche Musik der Patient gerne mag und eignet sich zum Beispiel Lieder aus der Jugend eines älteren Menschen an. Dabei greift er auf den Zeitraum zwischen dem 16. und 30. Lebensjahr zurück, wo das emotionale Erleben seinen Höhepunkt hat. 

Wie beeinflussen Volksmelodien die Patienten? 

Ein Musiktherapeut berücksichtigt neben der Diagnose und den individuellen Zielen eines Patienten auch immer dessen persönliche Geschichte, seinen Hintergrund, einschließlich der nationalen und ethnischen Identität.

In Asien gab es eine Untersuchung, ob sich mit Musik aus der Jugend eines Patienten oder mit unbekannter, aber in der Ethnie des Patienten verhafteter traditioneller Musik, mehr Fortschritte erzielen lassen. Es hat sich herausgestellt, dass auch die Volksmelodien sehr effektiv sind. 

„Jeder Mensch ist Teil eines Stammes. Ethnische Melodien sind die Rückkehr zu unseren Wurzeln", sagt Maria. Die Russen werden mit Schlafliedern erzogen, tanzen, singen am Lagerfeuer ebenso wie bei Tisch. Aus Russland stammt die Glockentherapie. Die tiefen, vollen Töne einer Glocke wirken beruhigend auf die menschliche Psyche, so dass manche Patenten auf einen Glockenturm geschickt werden, um dort diese Wirkung beim Läuten zu erfahren.  

Wer sind die Patienten? 

Die Musiktherapie wird nach bisherigen Forschungsergebnissen bereits erfolgreich während der Schwangerschaft, bei Geburten , in der Frühförderung von Kindern, in der Psychiatrie und bei der Förderung von Kindern mit Behinderungen eingesetzt, sehr häufig bei Autismus. Unter den Erwachsenen profitieren vor allem Menschen mit Demenz oder Parkinson oder nach einem Schlaganfall  von der Musiktherapie.

Denis etwa hat nach seinem Schlaganfall seine Sprache durch die Therapie wiedergefunden: „In den Sitzung kamen verschiedene Instrumente zum Einsatz. An die Gitarre konnte ich mich erinnern. Vor dem Schlaganfall habe ich selbst Gitarre gespielt. Ich bin von Natur aus musikalisch und es fiel mir nicht schwer, auch mit anderen Instrumenten Musik zu machen. Ich halte eine Kombination von Sprachtherapie und Musiktherapie für sehr sinnvoll. Mir hat es sehr geholfen. Meine Sprache ist wieder flüssiger und vielfältiger geworden. Das sage nicht nur ich, sondern auch meine Frau, die es aus Erfahrung beurteilen kann.” 

Ist Musiktherapeut ein anerkannter Beruf? 

Die Meinungen gehen noch auseinander, ob es den Beruf des Musiktherapeuten bereits gibt oder ob er erst geschaffen werden muss. 1985 wurde in Genua in Italien der Weltverband der Musiktherapeuten (WFMT) gegründet. Noch gibt es in Russland keine offizielle Ausbildung zum Musiktherapeuten. Der Weg dorthin führt über verschiedene  Weiterbildungsangebote. Die Staatliche Universität für Kultur und Kunst in Kasan bietet einen Lehrgang in Musiktherapie an, in dem die Schüler nach einer proprietären Methode unterrichtet werden. 

Auf der Grundlage des ursprünglich erlernten Berufs, zum Beispiel Musiklehrer oder klinischer Psychologe, finden die meisten Musiktherapeuten eine Anstellung. Ein Musiktherapeut sollte ein Generalist sein und von der Schwangeren bis zum todkranken Patienten in der Lage sein, sich in jeden einzufühlen. In Russland sind viele jedoch auf die Arbeit mit autistischen Kindern spezialisiert. Mit Patienten mit anderen Diagnosen arbeiten die meisten durchschnittlich erst nach fünf bis sieben Jahren Erfahrung als Therapeut. 

>>> Wie Menschen mit psychischer Störung dabei geholfen wird, Musik zu komponieren

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