„Schule fühlte sich an wie die Todesstrafe“: Russische Frauen und der harte Weg zur Selbstakzeptanz

inna_nemi, sashaagb/Instagram
Der Hashtag #СоМнойВсеТак (zu Deutsch: „Ich bin gut so, wie ich bin”) hat in den sozialen Medien eine Welle von Berichten russischer Mädchen über ihre Einstellung zu ihrem Körper und zu dem schwierigen Weg, sich selbst zu akzeptieren, ausgelöst.

Natalja Semljanuchina war erst zwölf Jahre alt, als sie mit dem Abnehmen anfing. Zuerst wollte sie nur ein paar Kilos loswerden, doch sie konnte nicht mehr aufhören. Nach 21 Kilo Gewichtsverlust bekam sie die Diagnose Magersucht. 

„Ich hatte zwar abgenommen, aber mein Po war noch immer flach”, sagt Natalja. Also hatte sie eine neue Idee: Anstrengende Gymnastikeinheiten und sehr gesunde Ernährung. Aus der Magersucht wurde eine Orthorexie, der Zwang, sich gesund zu ernähren. 

Natalja ist inzwischen 16 und hat endlich den Beliebtheitsstatus, von dem sie immer geträumt hat. Auf Instagram folgen ihr 1,2 Millionen Menschen. Dort nennt sie sich Tusja. Bekannt wurde sie, weil sie öffentlich von ihrem Kampf um Selbstakzeptanz berichtet hat. 

Sie steckt auch hinter dem Hashtag #СоМнойВсеТак, unter dem Tausende anderer junger Frauen nun ebenfalls ihre Geschichten erzählen, wie sie versucht haben, sich anzupassen, in dem sie Perücken getragen, sich hinter kräftigem Makeup versteckt haben oder sich sehr schmerzhaft Muttermale entfernen ließen. 

Unter dem Hashtag zeigen sich viele nun, wie sie wirklich sind. 

Anna Iwanowa: „Als ich das erste Mal mit Perücke in die Schule ging, habe ich mich gefühlt wie auf dem Weg zu einer Hinrichtung“

„Diejenigen, die mich nicht kennen, fragen oft nach meinen Haaren, wo ich sie färben lasse, wie ich es geschafft habe, diesen schönen Farbton, diese Locken usw. hinzubekommen. Meist murmele ich dann, dass dies ein Bekannter alle zwei Wochen mache”, erzählt Anna.

„Die Wahrheit ist: es ist nicht mein richtiges Haar. Es sind alles Perücken. Ich trage sie seit meinem 14. Lebensjahr. Damals fielen mir innerhalb eines Monats nach und nach alle Haare aus, was von meinem Umfeld nicht unbemerkt blieb.

Ein Mitschüler fragte einmal: ‚Was ist das? Eine kahle Stelle?’ Daraufhin habe ich mir die Haare komplett abrasiert und eine Perücke gekauft. Bei mir wurde Alopezie diagnostiziert – krankhafter Haarausfall. Wie er entsteht, weiß bis heute niemand. Für mich ging eine Welt unter. Ich war überzeugt, dass sich niemals jemand in mich verlieben würde. 

Meine Mutter hatte Angst, ich könne mir etwas antun. Als ich das erste Mal mit Perücke in die Schule ging, habe ich mich gefühlt wie auf dem Weg zu einer Hinrichtung. Ich hasste die Schule. Ich drehte mich nie mit dem Rücken zu anderen und bewegte den Kopf nicht mehr. Ich habe kaum noch kommuniziert. Eines Tages wurde es leichter. Aber ich habe es keinem erzählt. 

Ich bin es leid, Angst zu haben. Ich lasse diese Angst jetzt los und konzentriere mich auf mein wahres Ich und nicht darauf, den Erwartungen der Gesellschaft zu entsprechen.” 

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Sascha: „Irgendwann schaust Du einfach nicht mehr in den Spiegel.” 

„Es ist nur Teenager-Akne. Es wird vorübergehen. Das haben alle gesagt. Es sei keine große Sache. Doch ich habe dennoch alle Cremes meiner Mutter getestet”, erzählt Sascha. 

„Mit 20 hatte ich schon alles probiert. Auf schädliche Nahrungsmittel verzichtet, jedes erdenkliche Makeup versucht… Es war hart, die Kommentare der Leute zu hören. Irgendwann blieb ich wegen der Akne zu Hause. Drei Monate lang nahm ich Antibiotika. Die Haut wurde besser als je zuvor. Ich machte Selfies und drehte Videos. 

Doch irgendwann nahmen die Bakterien im Körper wieder überhand und die Haut wurde viel schlechter als vorher. Irgendwann schaut man nicht mehr in den Spiegel und schminkt sich auch nicht mehr. Es hilft ja nichts. 

Dann entdeckst Du diese Akne-Communities und Instagram und weißt plötzlich, dass Du nicht alleine bist. Häufig sind die Berichte auf Englisch. Russischsprachige kann man an einer Hand abzählen. Du führst andauernd einen Kampf, ärgerst Dich erst darüber, dass andere ungefragt gute Ratschläge geben, die Du wahrscheinlich alle schon ausprobiert hast. 

Aber es entwickelt sich auch Verständnis und Akzeptanz. Man begreift, dass andere etwas Ähnliches durchgemacht haben. Und dann stellt man fest, man ist in einer Kultur angekommen, in der man offen über alles  sprechen kann. Das ist das 21. Jahrhundert, eine Zeit monumentaler Neubewertungen solcher Dinge.  

Man wird stärker und stärker und kann irgendwann sagen: Mir geht es gut!“

Inna: „Mehr als ein Dutzend heftiger Bestrahlungen” 

„Mein Instagram-Account enthält kein einziges Kinderfoto, weil ich mit einem riesigen dunkelroten Fleck über meinem linken Auge geboren wurde. Der wissenschaftliche Begriff ist Hämangiom. Das Auge war zugeschwollen, die Sicht nahezu völlig eingeschränkt. Manche nennen es einen ‚Storchenbiss’ oder ‚Engelskuss’. Na, das ist ein Kuss… Im Krankenhaus legten sie meiner Mutter nahe, mich wegzugeben. So ein Kind brauche sie nicht. 

Die neunziger Jahre sind geprägt von vielen Reisen nach Moskau, die zwischen zwei Monaten und drei Jahren andauern und mehr als ein Dutzend starker Bestrahlungen am linken Auge beinhalten. Es ist beängstigend, sich vorzustellen, was meine Eltern durchgemacht haben müssen, damit die Zeichen dieser Krankheit fast verschwunden sind und meine Sehfähigkeit zu fast 100 Prozent wiederhergestellt werden konnte.

Die Strahlentherapie hat Spuren hinterlassen. Links habe ich weniger Haare, fast keine Augenbrauen und keine Wimpern. Ohne Makeup sieht man noch einen blauen Fleck und die linke Iris hat eine andere Farbe. Man kann definitiv sagen, dass ich ein exotisches Exemplar bin. 

Meine Kinderfotos waren mir immer peinlich. Ich hatte Angst, ausgelacht und in Kindergarten und Schule gehänselt zu werden. Ich habe Ehrfurcht vor meinen Eltern und allen Eltern, die den Mut hatten, ihre Kinder nicht im Stich zu lassen. Ihr seid alle großartig und verdient den höchsten Respekt.“ 

Katja: „Fette Sau! Hör auf zu fressen!” 

„Ich erinnere mich an meinen Selbsthass. Wie ich jedes Mal, wenn ich an einem Spiegel vorbeiging dachte: ‘Fette Sau, hör auf zu fressen!‘

Ich erinnere mich daran, dass ich mit einem Gewicht zwischen 48 und 60 Kilogramm keine schönen Kleider kaufen wollte. ! Die kaufe ich, wenn ich schlank bin”, dachte ich. Aber nichts geschah. 

Ich erinnere mich, wie ich mich nicht für die Männer entschieden habe, die ich wollte, sondern für die, die tief genug gesunken waren, sich für mich zu interessieren. 

Ich erinnere mich an das Unbehagen, einen Badeanzug zu tragen.

All das sind die Erinnerungen eines Mädchens, das viel Sport getrieben hat und gut aussah und sich dennoch selbst hasste! Fette Beine, breite Hüften, speckige Wangen! 

Aber das ist inzwischen völlig unwichtig! Heute wiege ich sogar 20 Kilo mehr, aber ich akzeptiere mich! Du kannst das Leben und andere Menschen nicht lieben, wenn Du die Person, die am meisten zählt, nicht liebst: Dich selbst!“

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