Stellen Sie sich vor, Sie sind gefesselt, stecken zudem in einer Zwangsjacke und hängen kopfüber. Innerhalb von 15 Sekunden sollen Sie sich aus dieser Lage befreien. Sie sind nicht allein. Die Gesichter Ihrer Zuschauer liegen im Dunkeln. Sie selbst werden von leistungsstarken Bühnenscheinwerfern angeleuchtet.
Für einen Illusionisten wie den Russen Sergei Woronzow ist das nichts Besonderes. Am 26. Mai 2018 wollte der damals 33-jährige zu Ehren des großen US-Zauberers Harry Houdini diesen Entfesselungstrick vorführen.
Zu Beginn lief alles nach Plan. Woronzow befreite sich aus der Zwangsjacke, nahm den ersten Applaus des Publikums entgegen. Dann versuchte er, seine Fußfesseln zu lösen. Doch diese waren defekt. Plötzlich stürzte Woronzow ab.
Es hätte seine letzte Show sein können, doch es gelang ihm gerade noch, sich so zu drehen, dass er mit den Füßen und nicht mit dem Kopf zuerst aufkam. Der Fersenbruch, den er sich dabei zuzog, musste mit Schrauben und Drähten gerichtet werden. Es folgte eine monatelange Rehabilitation. Er hinkt noch immer, besonders, wenn er müde ist.
„Danach haben alle gefragt, ob ich aufhöre. Das wäre nachvollziehbar und vielleicht vernünftig gewesen. Doch wenn mich die Kreativität packt, denke ich nicht über so etwas nach. Bei meinen Auftritten fühle ich keine Schmerzen, ich schalte die Angst aus”, sagt Woronzow, der inzwischen 34 Jahre alt ist.
Sergei trägt auf der Bühne die gleiche Kleidung wie im Alltag: eine rockige Lederjacke, ein schwarzes T-Shirt und Jeans mit Totenkopfaufdruck und anderen Verzierungen. Seine Augen sind dunkel geschminkt, er ist groß und trägt sein Haar lang. Das alles lässt ihn mysteriös und ein wenig gefährlich aussehen.
Dieser Gothic-Rock-Look steht im Gegensatz zu seinem sanften Charakter. Sergei berichtet von seinem letzten Urlaub in Dubai, den er mit seiner Mutter unternahm. Er hat immer Futter für streunende Tiere im Auto. Er ist ein ruhiger Typ, zurückhaltend gegenüber Fremden.
Wenn er über seine Arbeit spricht, fangen seine Augen an zu leuchten und er gestikuliert wild. Sergeis Wunschberuf, Zauberer, stand bereits im Alter von fünf Jahren fest, nachdem er eine Zirkusvorstellung besucht hatte.
Als Jugendlicher lernte er Emil Kio kennen, einen der berühmtesten sowjetischen Zauberkünstler aus einer alten Zirkusdynastie, und bat ihn, sein Mentor zu sein. Kio und Wladimir Rudnew, damals Präsident der Vereinigung der Magier, lehrten Sergei die Grundlagen der Zauberei. Eine Zirkusschule hat er nie besucht.
Sergei ist ein studierter Jurist, doch er hat nie in diesem Bereich gearbeitet. Er trat stattdessen auf Firmenfeiern auf und zeigte sein Zaubertricks. Sein Traum war eine eigene große Show, so wie David Copperfield. Sieben Jahre lang arbeitete er dafür, fertigte die Requisiten selbst an und probte wieder und wieder, bis alle Details passten. Um Geld zu verdienen, machte er weiter Gelegenheitsjobs.
Auf dem dornigen Weg zur eigenen Show und größerer Bekanntheit war sein erster großer Erfolg der Auftritt der kroatischen Sängerin Daria Kinzer beim Eurovision Song Contest 2011, deren Bühnenshow er gestaltete. „Einer meiner Träume war ein Auftritt beim ESC. Ich habe einige Choreographien an verschiedene Länder geschickt und Kroatien war sofort interessiert. Ich bekam den Auftrag, die Bühnenshow für den kroatischen ESC-Auftritt zu gestalten”, erzählt der Magier. „Die Sängerin besuchte mich zur Vorbereitung in Moskau. Ich hatte nur einen Monat Zeit und habe Tag und Nacht gearbeitet. Ich bin erst am Tag der Veranstaltung fertig geworden”, gesteht Sergei.
Als Geschäft betrachtet Sergei seine Arbeit nicht. Sein ganzes Geld und all seine Energien steckt er in seine Shows und ist nicht einmal sicher, ob sich das jemals auszahlen wird. Es geht ihm aber nicht um Gewinn, er zieht seine Befriedigung aus dem Gestaltungsprozess.
Er versucht, nur das Beste für seine Show einzukaufen und legt viel Wert auf ungewöhnliche Requisiten. Sechs bis zehn Auftritte absolviert er im Monat in Russland. Er würde gerne international auftreten, doch eine Tournee im Ausland ist eine wirtschaftliche und logistische Herausforderung. Alleine die Requisiten wiegen fünf Tonnen.
In diesem Jahr plant Sergei, mit mehreren Nummern den berühmten Entfesselungskünstler Houdini zu ehren. „Ich werde den Zwangsjackentrick wiederholen, der mich ein gebrochenes Bein gekostet hat und präsentiere einen neuen Trick. Dabei werde ich mich von Fesseln befreien, während über mir sechs Kreissägen schweben, die immer näher kommen”, kündigt der Illusionist an.
Bei der Frage nach den Sicherheitsmaßnahmen zögert Sergei: „Nein, ich treffe keine besonderen Maßnahmen. Alles ist echt, jeder kann alles anfassen. Bei einem Trick können mich die Zuschauer sogar mit eigenen mitgebrachten Schlössern anketten. Sollte mir eines Tages mal etwas passieren, dann ist es Schicksal. Ich probe so viel wie möglich und überprüfe alle Schritte immer wieder, damit es spektakulär und zugleich sicher für mich ist.”
Zwei Tage nach diesem Gespräch verletzte sich Sergei bei den Proben für die Kreissägen-Nummer schwer. Die Sägen schnitten ihm ins Fleisch und durchtrennten einige Sehnen. Seine Show musste er verschieben, weil er im Krankenhaus bleiben musste.
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