Wie entstand die russische Mafia?

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NIKOLAJ SCHEWTSCHENKO
In der Unterwelt brauchte man nicht nur kriminelle Energie, sondern auch Glück und Fürsprecher, um als Verbrecher Karriere zu machen.

An einem Wintertag im Januar 2013 traf der Leiter der Moskauer Polizei an einem Tatort ein. Ein Mann war mitten am Tag im Zentrum von Moskau durch einen Kopfschuss getötet worden. Die Identität des Opfers musste nicht überprüft werden. Es war der Berufsverbrecher Opa Hassan, eigentlich Aslan Ussojan, einer der einflussreichsten Mafia-Bosse des Landes. Sein Gesicht kannte jeder. 

In den 1990er Jahren gab es zahllose solcher Verbrecher in Russland. Doch wie wurden sie zu berufsmäßigen Kriminellen? 

Die Anfänge im Gulag 

Vory v Zakone“, zu Deutsch „Diebe im Gesetz“, gab es schon im zaristischen Russland, doch erst mit Stalin und seinem unterdrückerischen Regime wurde daraus eine eigene Gesellschaftsklasse. 

In den Lagern des Gulag schufen verbitterte Häftlinge eine Subkultur, für die Gewalt ein legitimes Mittel war, die eigenen Interessen durchzusetzen, streng hierarchisch organisiert, mit einer eigenen Sprache und einem ungeschriebenen Verhaltenskodex. Sie verachteten das offizielle Gesetz, doch schworen auf diesen Ehrenkodex. Wer dagegen verstieß, wurde zum Todeskandidaten. 

Opa Hassan verbüßte seine erste Haftstrafe im Alter von nur 19 Jahren. Er wurde wegen Widerstands gegen die Polizei verurteilt. Später saß er wegen illegalen Devisenhandels und mehreren Raubüberfallen ein. 

Er stieg zu einem einflussreichen „Paten” in Russland und in der gesamten GUS auf. Opa Hassan und andere Mafia-Bosse waren in der russischen Unterwelt der 1990er Jahre wegen ihrer Gewalttätigkeit, Rücksichtslosigkeit und Risikobereitschaft gefürchtet. In diesen Kreis aufgenommen wurde man durch eine mysteriöse Zeremonie. 

Aufnahmeritual 

Den Titel eines „Diebes im Gesetz” musste man sich verdienen, damals wie heute. Unter den Kriminellen hat man damit eine herausragende Stellung. 

Die Laufbahn startet für die meisten mit der Verbüßung einer Haftstrafe. Im Gefängnis musste man ein „ehrenhaftes Verhalten an den Tag legen. Keine Kooperation mit Vollzugsbeamten war eine wichtige Regel. Im Gegenteil, es wurde verlangt, deren Autorität zu untergraben. 

Die nächste Stufe war dann die eines „aufstrebenden Diebes im Gesetz”. Die Nachricht vom Aufstieg verbreitete sich oft in Windeseile in allen Gefängnissen des Landes. Das hatte folgenden Grund: von nun an stand der Aufstiegsanwärter unter besonderer Beobachtung. Wenn er dabei erwischt werden sollte, etwas Unangemessenes zu tun, etwa Informationen an die Polizei weiterzugeben, so wurde dies dem mächtigsten Knastboss gemeldet, der diese Information dann an die Paten draußen weiterleiten ließ. Auch nach der Haftentlassung musste der Aspirant unauffällig bleiben.

Zuletzt musste er sich noch einer Befragung durch eine Versammlung der einflussreichsten Mafia-Bosse stellen. Je mehr verabscheuungswürdige Taten er auf dem Kerbholz hatte, umso besser. Hatte er mal einen Aufruhr im Gefängnis angezettelt? Sich demonstrativ einem Aufseher widersetzt? Sehr gut! Wie viel Geld hatte er für die Obschak, die schwarze Kasse der kriminellen Syndikate, gesammelt? Negativ wirkten sich ein abgeleisteter Wehrdienst, eine Tätigkeit als V-Mann, aber auch Drogenkonsum aus.

Fielen alle Antworten zur Zufriedenheit aus, wurde der Kandidat in die Gemeinschaft der „Diebe im Gesetz” aufgenommen. Er gehörte nun zur Familie der Mafia. Dann löste sich die Versammlung auf. 

Spielregeln 

Der neue Berufsverbrecher musste einem legalen Leben für immer abschwören. Er durfte keine normale Beschäftigung aufnehmen, kein Geld auf legale Weise verdienen, nicht mit der Polizei und Behörden zusammenarbeiten und nicht in der Armee dienen. Im Gegenzug stand er nun unter dem besonderen Schutz der Mafia. „Sie betrachteten sich als Brüder, die aufeinander Acht geben, sich aber auch gegenseitig beobachten würden”, schrieb der Polizeioberst und Schriftsteller Sergej Dyschew. Der Fall der Sowjetunion brachte jedoch neue Spielregeln. 

Die wilden 90er 

Die Brüder wurden zu Gegnern, als es darum ging die Einflussbereiche neu aufzuteilen. Sie änderten sogar ihr Aussehen. „Früher wollten sie sich von der Masse abheben, hatten Tätowierungen als Erkennungszeichen. Diese zeigten sie nicht mehr offen”, schreibt (eng) der Mafia-Forscher Mark Galeotti.

Statt seine  Lebensunterhalt ausschließlich durch illegale Aktionen zu verdienen, bauten diejenigen, die mächtig und einflussreich genug waren, kriminelle Imperien auf, die vordergründig ganz legal waren.

Pawel Sacharow, ein Drogenbaron, erklärte (rus): „Eine schwarze Kasse ist großartig, aber heutzutage braucht man auch als Krimineller eine solide finanzielle Basis. Die kann man durch Investitionen in legale Geschäfte aufbauen.”

Bald machten die Unternehmen in den Händen des organisierten Verbrechens einen bedeutenden Anteil an der Volkswirtschaft aus. Opa Hassan hatte zum Beispiel Beteiligungen (rus) an Casinos,  Banken, Hotels, Supermärkten, Restaurants und anderen großen Unternehmen in Russland, der GUS und sogar Europa.  

Bandenkriege 

Was den Berufskriminellen alter Schule letztlich das Genick brach, war sinkender Respekt füreinander. Vor  den 1990er Jahren galt es als Todsünde, ein Mitglied der Mafia ohne Zustimmung der „Familie“ zu töten. In den 1990ern sprengte man sich jedoch gegenseitig durch Autobomben in die Luft oder setzte Schusswaffen ein. Todesfälle innerhalb der Mafia sorgten nicht mehr für Überraschung. 

An einem Wintertag im Januar 2013 ging Opa Hassan zu seinem versteckten Büro in einem Restaurant im Zentrum Moskaus. Die Schüsse, die ihn töteten, verursachten keinen Lärm. Sie wurden aus einem lautlosen russischen „Val“-Gewehr abgefeuert. Zurück blieb Opa Hassans kriminelles Reich. 

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