Gestatten: Ellisha Fox, Russlands erster männlicher Burlesque-Künstler

Anastasia Lyskowets
Tagsüber arbeitet er im Büro, abends tanzt er in High Heels und Federboa, um den Menschen beizubringen, in Harmonie mit sich selbst zu leben.

„Was presst du die Beine zusammen wie ein kleines Mädchen, das pullern muss!“, durch den Tanzsaal tönt die strenge Stimme des Choreografen. 

Ein junger Mann mit dem Aussehen eines Models in einem T-Shirt und kurzen Shorts hat gerade den Saal von einem Spiegel zum anderen durchschritten. Sein leichter Gang „aus der Hüfte“ wird durch die 20 cm hohen High Heels erschwert. 

„Selbst, wenn du Durchfall hast, muss man immer noch sehen können, dass es dir Spaß bereitet“, fährt der Choreograf unzufrieden fort.

„Ja, mir macht es Spaß und ich hasse euch alle, ihr Wichser!“, antwortet der junge Mann. Er zieht seine Schuhe mit müdem Gesicht aus und wiederholt den Tanz, den er vor einem Jahr bereits einmal aufgeführt hat. Er schaut den Choreografen an.

„Mädel, schreib, dass es Zeit ist, ihn zu töten. Ist deine Kamera sehr schwer?“, wendet der Lehrmeister sich an mich. Sein Gesicht ist rot vor Wut.

„Siehst du? Er ist der Einzige, der mich im Griff hat“, sagt sein Schüler stolz. 

So läuft zweimal pro Woche, dienstags und donnerstags, die Probe von Ilja ab. Er ist 35 und verheiratet. Tagsüber ist er Anti-Krisen-Manager in einem Unternehmen, das Beamer und Bildschirme verkauft. Abends ist er Ellisha Fox, der erste und einzige Star der russischen männlichen Burlesque.

Schulwechsel und Nervenzusammenbrüche

„Normalerweise träumen Jungen davon, Pilot, Kosmonaut oder Arzt zu werden. Das wollte ich nie. Ich habe meine Kindheit genossen“, erinnert sich Ilja mit einem glückseligen Lächeln. Es ist noch eine Stunde bis zur Probe und wir sitzen in einem Café. Er trägt eine Lederjacke, an seiner Tasche ist ein Fuchsschwanz befestigt. Nach eigenen Worten hatte er eine glückliche Kindheit – seine Eltern nahmen ihn oft mit auf Reisen, auch nach Europa und in die USA. Seit seiner Kindheit beschäftigt er sich mit Gesellschaftstanz.  

Im Sommer vor der siebten Klasse besuchte Ilja Kiew. Dort sah er zum ersten Mal in seinem Leben ein Plakat des Lido, des berühmten französisches Cabarets.

„Ich sah die Mädels mit ihren Federboas auf dem Foto und dachte: Wie cool ist das denn?!“, erinnert sich Ilja. 

Beeindruckt von dieser Reise wollte der Junge danach an einer Schulaufführung des Musicals Cats teilnehmen, aber er wagte es nicht, die Lehrer zu fragen – er hatte Angst, dass seine Klassenkameraden sich über ihn lustig machen würden.

Bald wechselte er zusammen mit einem Teil seiner Lehrer, darunter dem Schauspiellehrer, an eine andere Schule. Dort beschloss er, sich im Theater zu versuchen.

„Ich spielte gerne, probierte verschiedene Images aus, aber meine Klassenkameraden sahen mich schräg an. Sie sahen in mir einen Freak, der im Theater spielt und sich manchmal einen Katzenschnurrbart anmalt. Von Beliebtheit, vor allem bei den Mädchen, konnte nicht die Rede sein“, analysiert Ilja seine Schulzeit.

In der 11. Klasse begeisterte sich  Ilja bereits für Dita von Teese und die Kostüme aus Showgirls und Moulin Rouge, ging aber ans Bauinstitut studieren.

„Ein Bauingenieur in Russland kann immer einen Job finden, aber ein Schauspieler oder Tänzer nicht. Nach dem Diplom arbeitete ich sogar drei Jahre lang in meinem Beruf, dann wechselte ich in die Veranstaltungsbranche und arbeitete für verschiedene Medien- und B2B-Unternehmen“, sagt er mit einem aufgesetzten Lächeln.

Tänze auf Sex-Partys und zitternde Knie

Als Ausgleich zum Beruf tanzte Ilja abends auf Fetischpartys, darunter auch in einem Transvestiten-Club und auf Sexpartys.  

„Ich habe eine entspannte Haltung zu Sex auf solchen Partys. Warum auch nicht? – alle haben dort ihren Spaß! Einige Besucher sehen mir trotzdem zu und ich vermittle ihnen positive Emotionen“, argumentiert der Tänzer. Er selbst habe auf solchen Partys nie Sex.  

Vor mehr als einem Jahr unterzog sich Ilja einer einfachen Operation (über die Einzelheiten möchte er nicht sprechen), der eine Depression folgte. 

„Ich konnte einfach keine Freude mehr empfinden bei allem, was ich tat. Gleichzeitig verglich ich mich mit meinen Freunden und dachte, ich hätte nichts erreicht. Und ich fing an, mich zu fragen, ob ich den falschen Weg gewählt habe“, erinnert sich der Mann.

Aus der Depression holten ihn schließlich die Organisatorinnen der Sexpartys, die auch bei der Show Ladies of Burlesque in Moskau mitwirkten, heraus.

„Die Mädels luden mich zu ihrer Vorstellung ein. Ich sah, wie bezaubernd sie alle waren. Während der Pause riefen sie mich zu sich und schlugen mir vor, an der Show teilzunehmen – ich lehnte natürlich ab, weil ci dachte, ich könne das nicht. Und dann kam der Moderator auf die Bühne und kündigte ohne mein Einverständnis an, dass sie in zwei Monaten ihren ersten Burlesque-Künstler auftreten lassen würden, und schaut mich dabei an. Dann wurde mir klar, dass ich in Schwierigkeiten steckte“, sagt Ilja. 

Der erste Auftritt wurde mit einem Choreografen und einem Kostümbildner vorbereitet. Ilja wählte das Image eines Prinzen in einem weißen Kostüm.

„Ich wollte auf die Bühne gehen und zeigen, dass ich so cool und verführerisch bin, wie ein schönes Bild aus einer Zeitschrift. Nur meine Beine zitterten, obwohl alle applaudierten. Dann wurde mir klar, dass die einzig Entscheidung war, sich diesem Druck auszusetzen“, argumentiert der Künstler.

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In Harmonie mit sich selbst

„Ist das etwa ein Kerl?“, fragt mich ein Freund unter dem Lärm des Beifalls. Ellisha betritt in Damenstrümpfen und einem Kleinen Schwarzen die Bühne. Die Schuhe sitzen wie angegossen.

„Ja, warum?“, frage ich verwundert.

„Das kann ich mir nicht ansehen“, sagt er beleidigt und dreht der Bühne den Rücken zu. 

Als ob Ellisha diese Abneigung gespürt hat, versucht er, die Aufmerksamkeit des verärgerten Zuschauers auf sich zu ziehen, indem er unter Jazzmusik mit seinem Handschuh über dessen Schulter streicht. Das hilft jedoch nicht. Dann beginnt sich der Künstler unter begeisterten Zurufen auszuziehen.

„Tatsächlich ist dies eine normale Reaktion – wenn es dir nicht gefällt, schaust du nicht hin. Das passiert manchmal, aber eigentlich kann ich mich nicht beschweren. Ich bin auf der Bühne, ich bin Künstler. Und so reagiert inzwischen selten jemand“, erklärt Ilja dieses Verhalten. 

Seine Frau unterstützt seine Leidenschaft und hilft ihm sogar, Kostüme für die Auftritte zu erfinden. Mit seiner Mutter spricht er kaum über das Thema Burlesque. Sie ist der Überzeugung, dass er in einem Stripclub tanzt. Bei seinem Vater ist das Thema Tabu.

„Sie wollten, dass ich ein guter Bauingenieur werde. Und jetzt sagt meine Mutter ständig, dass ich aus den Rahmen falle und zu sehr auf mein Äußeres achte“, sagt der Künstler traurig.

Ilja hat vor, Schauspieler zu werden, aber er will die Burlesque nicht verlassen. Er sagt, jeder Auftritt bei den Ladies of Bourlesque erzeuge bei ihm eine mehrtägige Euphorie. Gleichzeitig gefällt ihm, dass professionelle Tänzer die Burlesque-Künstler nicht ernst nehmen. Es gibt ihm das Gefühl, eine „Slumdog-Beyonce“ zu sein – jemand, der sich alleine hochgearbeitet hat.

„Ich versuche mit meinen Auftritten zu sagen, dass man jemand anders sein kann – jeder kann sein, der er will und man muss sich dafür nicht schämen. Man darf nicht aggressiv sein und jemanden moralisch unterdrücken, nur weil er sich von anderen unterscheidet“, erklärt Ilja. „Wenn man einfach nur in Harmonie mit sich selbst ist, werden die anderen anfangen, es als normal wahrzunehmen. Ich hoffe, das werden sie.“

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