MEINUNG: Russen sind extreme Absahner. Aber das ist in Ordnung

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OLEG JEGOROW
Ist harte Arbeit der Weg zu Freiheit, Wohlstand und Glück? Nee, das überlassen wir den Amerikanern.

Jeder Übersetzer muss tief durchatmen, bevor er versucht, einem Nicht-Russen die Bedeutung des Wortes chaljáwa zu erklären. Man könnte es ins Deutsche als gratis übersetzen, aber das russische chaljáwa bedeutet so viel mehr als nur etwas, das kostenlos zu bekommen ist. Es ist eine Lebenseinstellung, ein Ausdruck der nationalen Philosophie.

Wenn du einen Geldschein auf der Straße findest und hn in die Tasche steckst, dann ist das chaljáwa. Wenn ein Freund dich ins Kino einlädt, weil seine Freundin es nicht geschafft hat und es zu spät ist, das Ticket zurückzugeben, dann ist das chaljáwa. Und wenn du vor der Prüfung nicht gelernt hast und dank der guten Laune des Professors eine „Eins“ bekommst, dann ist auch dies chaljáwa. 

Im Grunde genommen ist chaljáwa die Mischung aus „kostenlos“ und „Glück“, es sind alle möglichen Umstände, die es einem ermöglichen, etwas Gutes (sei es Geld, eine Sache oder ein gutes Ergebnis bei einer Prüfung) ohne Anstrengung zu bekommen. Und all diese guten Dinge na chaljáwu, also kostenlos, zu bekommen, ist ein Traum. Der russische Traum.

Unschön?

Nicht wenige Menschen kritisieren das Konzept des chaljáwas, weil es schädlich sei und die Faulheit fördere. Neil Martin, ein Englischlehrer in Russland, schrieb 2014 in seinem Artikel für BBC Russland: „Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich bin, wie jeder andere Mensch, ganz und gar für chaljáwa – wenn wir über kostenloses WLAN oder Gratis-Proben im Kaufhaus sprechen... Aber an Universitäten ist es ein gefährlicher Ansatz. Die Hochschulbildung... bereitet die Studenten auf das echte Leben nach der Universität vor, in dem es kein chaljáwa gibt. Die Studenten sollten nicht erwarten, eine Eins gratis zu bekommen.“

Nicht alle chaljáwas sind gleich – einige sind schädlicher als andere, wie das Schwarzfahren im ÖPNV (die Leute kommen leicht damit durch, wenn sie nicht in eine Kontrolle geraten) oder das illegale Downloaden von Musik, Filmen und Büchern aus dem Internet.

Wer ein solches Verhalten nicht ertragen kann, wie der Produzent und Vertreiber Sam Klebanow, sieht die Liebe zum chaljáwa in gefährlicher Nähe zum Diebstahl. „[Das Downloaden aus] Torrents ist im Grunde genommen Diebstahl. Natürlich ist es viel angenehmer, etwas na chaljáwa zu bekommen, als dafür zu bezahlen... aber es ist wie eine Brieftasche in der U-Bahn zu stehlen“, sagt Klebanow.

Ich war selbst einmal in einer solchen Situation. Als ich in einer dunklen Winternacht nach Hause kam, bemerkte ich einen 100-Rubel-Schein im Schnee. Niemand war in der Nähe und ich dachte mir, Kleinvieh mach auch Mist (umgerechnet sind das „dank“ der Finanzkrise von 2014 etwa 1,50 €) und nahm diesen Glücksfund mit. Nachdem ich nach Hause gekommen war, erzählte ich fröhlich die Geschichte meiner Freundin – einem weitaus anständigeren Menschen als ich selbst – und sie warf mir einen Blick zu, als hätte erzählt, gerade einen Passanten abgestochen zu haben: „Das war doch das Geld eines anderen“, empörte sie sich. „Warum hast du es aufgehoben?“

Zu meiner Rechtfertigung

Damit das klar ist: Ich bin gegen das Stehlen. Hätte ich die Person gesehen, die den Geldschein fallen ließ, hätte ich ihn – da bin ich mir ziemlich sicher – ihr gegeben. Und ich stehle keine Brieftaschen in der U-Bahn (oder sonst wo). Aber wenn ich Geld sehe, das herrenlos herumliegt, dann stecke ich es, verdammt noch mal, ein. Und ich lade oft Filme und Bücher aus Torrents herunter und fühle keine Scham dabei. Wenn ich kostenloses Essen aus dem Internet herunterladen könnte, würde ich es auch tun (Ich muss vielleicht nicht mehr lange warten – hallo 3D-Drucker!).

Mit anderen Worten, ich liebe chaljáwa so sehr wie fast jeder Russe. Und ich möchte erklären, warum ich das in Ordnung finde.

Der typische amerikanische Traum, der die westliche Welt dominiert, ist recht simpel: Du beginnst mit nichts, arbeitest hart, widmest all deine Fähigkeiten und Leidenschaft der Erreichung deines Ziels und wirst irgendwann Erfolg haben ...oder sterben. Die Russen gehen einen anderen Weg, denn von der Wiege an sind wir sicher, dass harte Arbeit kaum belohnt wird.

In Russland kann immer etwas dazwischenkommen, was die Früchte deiner Arbeit sabotiert. Du bist ein Bauer im 18. Jahrhundert, der sich von früh bis spät abrackert – aber ein paar Jahre mit schlechter Ernte, und du hungerst. Du bist ein erfolgreicher Moskauer Bürger Anfang des 20. Jahrhunderts, das Geschäft floriert - huch, es beginnt der Erste Weltkrieg, ein paar Revolutionen, die Bolschewiki kommen an die Macht und nehmen dir alles weg (und dich vielleicht gleich mit). Du bist ein sowjetischer Stahlarbeiter in den 1930er Jahren, der das Doppelte der Norm leistet und großes Ansehen genießt – aber eines Tages denunziert dich ein Nachbar und erfindet Geschichten über deine trotzkistischen Neigungen, und es heißt „Ab in den GULAG mit dir, Kamerad!.

Der letzte große Paradigmenwechsel in den Neunzigerjahren kostete Zehn-, wenn nicht gar Hunderttausenden Menschen, die im sowjetischen System aufgewachsen waren, alles – ihre Karriere, ihr Geld und ihre Zukunft. Gleichzeitig wurden ein paar Dutzend Menschen innerhalb kürzester Zeit unermesslich reich, weil sie gerissen genug waren, die richtigen Verbindungen hatten und sich schnell Unternehmen und Geschäfte unter den Nagel rissen haben. Diese Menschen werden Oligarchen genannt und sind in der Öffentlichkeit ein perfektes Beispiel dafür, wie man sehr viel na chaljáwu bekommen kann (Obwohl diese verständlicherweise anderer Meinung sind).

Ich möchte damit nicht sagen, dass die Russen als Nation nicht in der Lage wären, sich der Arbeit zu widmen und ihr Geld fair und ehrlich zu verdienen. Im Gegenteil, viele von uns arbeiten ihr ganzes Leben lang hart. Es ist nur nicht immer von Erfolg gekrönt, so dass es nie schadet, etwas Glück zu haben und/oder clever zu sein.

Lange Rede kurzer Sinn, in Russland garantiert harte Arbeit keinen Erfolg. Und auch wenn es heute relativ ruhig zugeht, liegt es wohl in unseren Genen, auf einem Pulverfass zu leben. Unter solchen Umständen funktionieren irrationale Methoden, etwas Gutes (kostenlos) zu bekommen, am besten – und wir nutzen die Gelegenheit, wenn wir eine haben. Auch wenn es manchmal unschön aussieht. 

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