Russen in Großbritannien begrüßen Brexit mit einer Mischung aus Hoffnung und Sorge

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Nichts hat in der letzten Zeit die Öffentlichkeit in ganz Europa schärfer gespalten als der Brexit – die russische Community, die von den Medien oft als pro-Brexit eingestuft wird, ist da keine Ausnahme. Welche Hoffnungen und Ängste verbindet die Bevölkerung in Großbritannien mit dem Brexit jetzt, wo die Stunde der Wahrheit unmittelbar bevorsteht?

Zwei Meinungen, jede auf ihre Weise falsch, prägen die Wahrnehmung zum Thema Russen und Brexit: Erstens, dass der Brexit schlecht für Einwanderer und damit auch für Russen sei. Zweitens, dass der Brexit gut für die Russen sein müsse, da sie sicher irgendwie dahinter stecken. Russland ist ja kein Mitglied der EU und der Brexit hat somit keine direkten Auswirkungen auf die Einwanderungspolitik für die Russen. Viele Russen in Großbritannien haben den Brexit in der Tat unterstützt – ebenso wie viele Einwanderer aus anderen Nicht-EU-Ländern und gebürtige Briten. Allerdings waren viele schlichtweg dagegen oder haben Bedenken für die Zukunft – und das oft aus Gründen, die weit über ihre eigenen Geschäftsinteressen hinausgehen. 

Der Brexit ist unerfreulich, aber das macht nichts

Marina Stager ist eine Kunstkuratorin und Galeristin aus St. Petersburg. Sie leitet die Stager-Galerie in London, die sich auf zeitgenössische russische Kunst spezialisiert hat, und organisiert Führungen durch Londons Top-Galerien und Ausstellungen. Marina sagt, sie sei gegen den Brexit gewesen, weil ihr, die hinter dem Eisernen Vorhang in der Sowjetunion aufgewachsen ist, die Idee von Grenzen und Teilung nicht gefällt. Aber sie respektiert auch das Ergebnis des Referendums, dass die Bedenken der Mehrheit des britischen Volkes widerspiegelt. 

„Der Brexit hat keinen wirklichen Einfluss auf meine Geschäfte. Die russische zeitgenössische Kunst befindet sich in einem relativ bescheidenen Preissegment, selbst für Künstler, die auf der Biennale in Venedig und in vielen namhaften Museen ausgestellt haben. Dies ist ein kleines Segment und nur sehr wenige Galerien im Westen arbeiten ausschließlich in dieser Richtung, so wie wir. Die Käufer im Vereinigten Königreich gehören der Mittelschicht an, Menschen, die inmitten von Kunst aufgewachsen sind. Ich glaube weder, dass der Brexit diesen kleinen Markt beeinflussen wird, noch das Zoll und Steuern bei Kunstkäufen eine große Rolle spielen werden“, ist Marina sich sicher.

Sie weist darauf hin, dass ihre Kunden eine sehr heterogene Gruppe sind – sie stammen aus Indien, den Vereinigten Staaten, aus der ganzen Welt. „Aber dies ist eine Nische und wenn jemanden diese Art von Kunst interessiert, bleibt er bei der Stange, egal was passiert“, erklärt Marina. Ganz allgemein werde der Brexit die Europäer wohl kaum davon abhalten, die Kunstmessen in London zu besuchen, sagt sie. 

Die langfristige Risiken überwiegen die kurzfristigen Gewinne 

Artur Ilijew, Gründer des Grünpflanzen und Gartenzubehör-Vertriebs Artflora in Moskau, betreibt auch das Portal Getpotted.com in Großbritannien, wo er heute mit seiner Familie lebt. Auch er ist kein Brexit-Fan – auch wenn es, wie er sagt, seinem Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil verschaffen könnte. Arturs Bedenken beziehen sich jedoch auf die britische Wirtschaft als Ganzes und darauf, wie sich ein Brexit-bezogener Abschwung auf den Verkauf aller nicht lebensnotwendigen Güter, einschließlich seiner eigenen, auswirken könnte. 

„Als die UdSSR auseinanderbrach, hatten viele der ehemaligen Sowjetrepubliken, sobald sie nicht mehr Teil des Ganzen waren, Mühe, eine eigene wirtschaftliche Basis aufzubauen“, sagt Ilijew. „Großbritannien ist Teil des europäischen Wirtschaftsraums und die Abspaltung birgt ähnliche Risiken. Teil von etwas Größerem zu sein, ist wirtschaftlich immer besser, als auf sich allein gestellt zu sein. Die Aussichten auf ein neues Abkommen mit der EU sind unklar und die Hoffnung, dass ein zukünftiges Abkommen mit den USA uns vor dem Abschwung retten wird, ist töricht. Ich befürchte, dass es eine Rezession geben wird und die Menschen weniger von allem kaufen werden – auch von unseren Produkten.“

Auch wenn Artur seine Waren hauptsächlich aus anderen EU-Ländern importiert, sagt er, dass bürokratische Bedenken hinsichtlich des Zolls und des zusätzlichen Papieraufwands für ihn oberflächlich klingen. Da er seit Jahren ein Unternehmen betreibt, das die gleichen Waren aus der EU nach Russland importiert, hat er keine Angst davor, einige Formulare auszufüllen oder dass sich die Ankunft der Sendungen um einige Tage verzögert. Artur glaubt, dass der Brexit ihm sogar einen gewissen Wettbewerbsvorteil verschaffen kann.

„Einige Hersteller, die früher ihre eigenen Verkaufsbüros in Großbritannien hatten, haben diese nun wegen des Brexits geschlossen, und Händler wie wir konnten Vertriebsrechte erwerben. Und natürlich werden die Brexit-bezogenen Zölle und Steuern dazu führen, dass ein britischer Verbraucher in Betracht ziehen wird, dasselbe Produkt nicht mehr bei einem EU-Händler zu bestellen und jetzt viel eher zu uns kommen wird“, orakelt Ilijew. Doch seine Bedenken für die Wirtschaft überwiegen jedes Interesse an kurzfristigen Gewinnen. „Ich befürchte, dass die negativen Auswirkungen eines Brexit-bezogenen Abschwungs größer sein werden als die positiven Auswirkungen des Wettbewerbsvorteils, den wir erlangen werden.“

Die langfristige Gewinne überwiegen die kurzfristigen Risiken

Dennoch hat der Brexit in der russischsprachigen Diaspora starke Unterstützer. Andrej Pjatibratow, ein russischsprachiger britischer Staatsbürger, der die Londinium Mortgage Advisors, eine in London ansässige Immobilienfinanzierungs- und Investmentgesellschaft, leitet, stimmte für Brexit. Er sagt, er habe immer gewusst, dass dies mit einem kurzfristigen Abschwung einhergehen würde. Doch er glaubt, dass es sich am Ende lohnen werde, wenn das Vereinigte Königreich seine eigenen Entscheidungen zur Einwanderungspolitik treffen und frei mit der ganzen Welt handeln kann.

„Die Europäische Union war schon immer eine Partnerschaft von Nicht-Gleichgestellten und das ist ein Problem in jeder Partnerschaft. Sie ist eine Institution, die zum Wohle Frankreichs und Deutschlands geschaffen wurde und die anderen Mitgliedsländer bekommen manchmal hier und da ein kleines Stück vom Kuchen ab. Aber dennoch wurden einige von ihnen wirklich wirtschaftlich ausgebeutet, wie Portugal oder Griechenland“, sagt Pjatibratow. „Und meiner Meinung nach hat die EU durch die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU mehr gewonnen als wir.“

Andrej bemerkt, dass sich vom Londoner Immobilienmarkt sicherlich einige Käufer und Investoren zurückgezogen haben, für die die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU ein Faktor bei ihrer Kaufentscheidung war. Aber er glaubt, dass die britische Wirtschaft und ihr Immobilienmarkt über genügend innere Stärke verfügt, um damit fertig zu werden: „Einige Menschen werden gehen, aber andere werden dafür kommen und deren Platz einnehmen. Außerdem verfügen einige Leute heute in London über Immobilien, die zu höheren Preisen gekauft wurden, und wenn sie jetzt verkaufen würden, müssten sie einen riesigen Verlust hinnehmen. Die meisten von ihnen werden wahrscheinlich abwarten. Im Moment befinden wir uns in einer Phase der Unsicherheit – und niemand will in einer solchen Situation investieren. Aber in ein, zwei Jahren werden wir sehen, dass sich der Markt stabilisiert haben“. Pjatibratow rechnet nicht mit Schwierigkeiten für sein eigenes Geschäft, zu dem auch die Hypothekenfinanzierung gehört. „Selbst wenn es keine neuen Verkäufe gibt, werden die Menschen immer eine Refinanzierung benötigen“, ist er sich sicher. „Solange die Regierung nichts Dummes tut, wie z.B. die Zinsen auf ein sehr hohes Niveau anzuheben…“, sagt er.

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