Meinung: Die Behauptung, dass die Russen massenhaft auswandern wollen, ist falsch

Dmitrij Feoktistow
Russland hat von der UdSSR das, in den westlichen Medien stark gepflegt, Image geerbt, ein Ort zu sein, den jeder so schnell wie möglich verlassen will. Doch das trifft bereits seit vielen Jahren nicht mehr zu.

Im Januar 1991 veröffentlichte die „Washington Post“ einen alarmierenden Kommentar (eng): Die Russen kommen! Millionen von ihnen. In Wirklichkeit geschah das Gegenteil: 1991 war ein Jahr der Inspiration, der neuen Möglichkeiten. Die UdSSR war am Jahresende Geschichte und das neue Russland empfing mehr Migranten, als es Menschen hatte, die das Land verlassen wollten. Dies gilt auch heute noch. Bei der „Washington Post“ ist dies jedoch nicht angekommen. Im August 2019 behauptete (eng) sie, dass „erstaunliche 44 Prozent der jungen Russen gehen wollen“. Ja, wirklich? Lassen Sie uns tiefer bohren. 

Der Mythos vom anhaltenden Exodus 

Es gab sicherlich immer Menschen, die glaubten, dass sie ihr Glück nur woanders finden könnten. Aber die Mehrheit der Sowjetbürger wollte nie wirklich weg. Die Leute wollten nicht gehen, weil sie dort, wo sie waren, nicht sein wollten, sondern weil der Eiserne Vorhang ihnen die Möglichkeit nahm, woanders hinzugehen. 

Es hat Auswanderungen gegeben, das stimmt. Doch die Zahl war nicht außerordentlich groß, denn es gab Hürden zu bewältigen, die von der Antragstellung abschreckten, so dass vor allem diejenigen, deren Familien schon im Ausland waren, abtrünnig wurden.

Brighton Beach, Brooklyn, New York City, 1989

In dem dramatischen Artikel von 1991 wurde auch behauptet, dass die Anträge auf Ausreisevisa in der Sowjetunion in den letzten Jahren zugenommen hätten, und es scheint, dass dies auf die desaströse Wirtschaftslage aufgrund der damaligen Reformen zur Liberalisierung zurückzuführen sei. Das ist nicht wahr. Der Wunsch der meisten Menschen, die UdSSR zu verlassen, war nicht ökonomisch motiviert, schon gar nicht 1991. Die neue Möglichkeit zu reisen wurde dagegen von vielen genutzt. 

Ein Kommen und Gehen 

Bis Januar 1992 war das neue unabhängige Russland zum Einwanderungsland geworden. Die scheinbar überstürzte Migration der damaligen Zeit betraf vor allem ethnische Russen, die damals auf 15 unabhängige Staaten der untergegangenen Sowjetunion verteilt waren. 

Im gleichen Maße, wie Menschen den Wunsch hatten, die UdSSR wegen des wirtschaftlichen Untergangs zu verlassen, suchten die Menschen aus der Peripherie der ehemaligen Sowjetunion nun ein besseres Leben in Russland. Diese Migrationswelle umfasste zwischen 1992 und 1995 durchschnittlich jährlich eine Million Menschen, zwischen 1996 und 2000 etwa 500.000 pro Jahr und setzte sich danach mit einer Rate von mehr als 100.000 Menschen pro Jahr fort, wie diese Studie (eng) zeigt. 

Alexander Solschenizyn

Russland ist bis heute ein Ziel für Wirtschaftsmigranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken in Mittelasien. Es gab aber auch zurückkehrende Auswanderer. Nicht wenige Menschen, die zuvor die UdSSR verlassen hatten, waren damals gezwungen worden, dies zu tun, zum Beispiel der Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn. Viele Juden, die nach Israel gingen, taten dies nur, weil sie ihre Verwandten sehen wollten. Als klar war, dass nun ein Pendeln möglich war, kehrten sie zurück. 

Was bedeutet „verlassen“? 

Die neueste Folge der „Washington Post“-Serie „Russian Exodus“ lässt offen, was genau mit einem „Verlassen des Landes“ gemeint ist.  Die Autoren geben zu, dass die dramatische Überschrift („Beeindruckende 44 Prozent der jungen Russen wollen gehen“) Zahlen enthält, die einer kürzlich durchgeführten Umfrage von Gallup (eng) entnommen wurden. In dem Bericht heißt es wörtlich: „Ein neuer Höchststand von einem Fünftel der Russen (20%) sagt jetzt, dass sie Russland gerne verlassen würden, wenn sie könnten“, und dies lässt viele Fragen offen. 

Hier sind die beiden ersten, die mir in den Sinn kommen. 

1. Laut Gallup wollten 17% der Russen schon 2007 das Land verlassen. Wie viel Prozent sind in dieser Zeit tatsächlich gegangen und nicht zurückgekommen? Wenn es sich um eine vernachlässigbare Zahl handelt, was genau misst diese Umfrage dann? Gallup spekuliert, dass dieser Trend „den Bevölkerungsrückgang in Russland beschleunigen könnte“, den auch die UN prognostizieren. 

Die UN treffen ihre Vorhersagen jedoch auf der Grundlage der aktuellen demografischen Entwicklung (z.B. sterben derzeit mehr Russen als geboren werden). Die Auswirkungen des Anstiegs der Zahl der Menschen, die „möglicherweise für eine Weile in einem anderen Land leben möchten oder nicht“ von 17% im Jahr 2007 auf 20% im Jahr 2018 werden den prognostizierten Bevölkerungsrückgang nicht beschleunigen - und das nicht nur, weil die meisten das Land nicht für immer verlassen wollen. Doch selbst, wenn dies der Fall wäre, würde dies keine Rolle spielen, da Russland derzeit immer noch mehr Einwanderer als Auswanderer hat.

2. Was bedeutet „wenn sie könnten“ genau? Hält sie etwas davon ab zu gehen? Russland hindert die Menschen nicht mehr daran, das Land zu verlassen und das hat sich als erfolgreiche Strategie erwiesen.  

Einige Russen, die gegangen sind, stellen nun fest, dass es andernorts nicht besser, oder gar schlechter ist, und kehren zurück. Sie berichten anderen davon. Viele leben saisonal in Expat-Enklaven wie Goa, Montenegro oder an der spanischen Küste. 

Wenn Gallup diejenigen gefragt hat, die von Auswanderung träumen, um dem Alltag zu entfliehen, könnte die Zahl tatsächlich hoch sein, denn viele Russen glauben, dass sie sich diesen Traum eines Tages erfüllen können. 

Wenn es an den gut bezahlten Jobs, Eigentum und einem aktiven sozialen Leben liegt, dass die Befragten das Land nicht verlassen „können“, dann interpretiert die „Washington Post“ das Umfrageergebnis falsch. 

Die „beeindruckende“ Zahl von 15- bis 29-Jährigen will „migrieren“, also von einem Ort zum anderen ziehen. Die „Washington Post“ schreibt nicht „emigrieren“, was auswandern bedeutet. Die Zeitung verweist in ihrem Artikel auf Kundgebungen der Opposition in Moskau und Debatten über die Rentenreform und kommt zu dem Schluss, dass „diese Zahlen die weit verbreitete Unzufriedenheit in Russland mit der Situation im Land veranschaulichen“. 

Es ist lächerlich zu behaupten, dass diese Themen fast die Hälfte der unter 30jährigen aus dem Land treiben. Gallup sieht einen Zusammenhang mit dem „Wunsch nach Auswanderung“ und der Zufriedenheit mit Präsident Wladimir Putin. Die Haltung zum Präsidenten hat jedoch praktisch nichts mit der tatsächlichen Auswanderung zu tun. Nachdem sie ihre Regimekritik losgeworden ist, schreibt die „Washington Post“, dass der Wunsch nach Auswanderung häufig mit bereits bestehenden „transnationalen Verbindungen“ der Befragten zu tun habe. Mit anderen Worten, Menschen, die bereits Verwandte in bestimmten Ländern haben, könnten sich vorstellen, selbst in diese Länder zu ziehen. Als „transnationale Verbindungen“ galten in der Umfrage auch solche, die die Umfrageteilnehmer geknüpft haben, wenn sie in der Vergangenheit im Ausland waren. 

Menschen, die sich bereits vor ihrer Abreise entschieden haben, aus dem Ausland nach Russland zurückzukehren, werden in diesem Propagandastück als diejenigen gezählt, die das Land unbedingt verlassen wollen.

Das Gras ist auf der anderen Seite immer grüner  

Tadschikistan hat in den letzten Jahren eine große wirtschaftliche Migration nach Russland erlebt. Die tadschikischen Bürger in Moskau arbeiten hauptsächlich als Straßenkehrer, Taxifahrer oder Bauarbeiter und spielen in der russischen Kultur dieselbe sprichwörtliche Rolle wie Migranten aus armen osteuropäischen Ländern in Westeuropa.

Der Punkt des oben Gesagten ist, dass das Streben nach besseren Bedingungen ein Instinkt ist, der in das Evolutionsprinzip eingebettet ist. Wir Menschen suchen immer nach Wegen, um mehr zu bekommen als wir haben. Das sagt jedoch nichts über die Qualität unserer gegenwärtigen Bedingungen aus. Die Welt ist ein unendlicher Wirbelwind der Migration - so wie wilde Tiere ständig auf der Suche nach neuen Weiden wandern, tun wir es auch.

>>> Steht Russland am Rande einer Einwanderungskrise?

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