Stress pur: Wie gehen russische Ärzte mit der Coronakrise um?

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WIKTORIA RJABIKOWA
Einige versuchen den Stress mit Alkohol abzubauen, andere halten angesichts der Dankbarkeit der Patienten tapfer durch.

Svetlana, Allgemeinmedizinerin im Krankenhaus

Man schickte mich und andere Ärzte zuerst zum Flughafen Scheremetjewo, um die aus dem Ausland ankommenden Menschen zu untersuchen. Da machten wir 12-, manchmal auch 24-Stunden Schichten. Zusätzlich dazu hatte ich meine Hauptschichten im Krankenhaus wie üblich.

Als noch internationale Flüge durchgeführt wurden, überprüften wir die Passagiere aus China. Hauptsächlich waren das Studenten, die nach den Ferien zurückkehrten. Wir haben bei ihnen an Bord des Flugzeugs Fieber gemessen, erst dann gingen sie durch die Pass- und Grenzkontrolle zum medizinischen Bereich. Da haben wir sie fotografiert und Abstriche genommen. Jedem wurde zudem eine Identifikationsnummer zugewiesen und alle mussten Formulare mit ihren Kontaktdaten, ihren Flug- und Bordkartennummern ausfüllen.

Jeder Einreisende hat von uns eine Broschüre bekommen mit Informationen darüber, was getan werden muss, sollten die Symptome von COVID-19 auftreten. Wir sagten allen, dass sie sich isolieren sollten und ließen sie dann nach Hause fahren.

Zuerst waren die Flüge voll — jeweils 200-300 Passagiere. Nachts haben wir 3-5 solcher Flüge abgefertigt, tagsüber sogar noch mehr.

Passagiere, die aus Italien gekommen sind, haben wir nur fotografiert und sie gebeten, die Formulare auszufüllen, ohne Abstriche zu nehmen. Die Flüge aus Italien waren auch fast leer, also es war relativ einfach, damit umzugehen [der erste Coronavirus-Kranke in Russland kam zurück aus Italien].

Dann aber haben die Leute angefangen, massenhaft aus Deutschland, Spanien und Frankreich zurückzukehren. Es gab viele Flüge und alle waren voll.

Die Menschen waren müde und genervt, es passierte alles um 3 oder 4 Uhr morgens und manche hatten kleine Kinder bei sich. Wir durften keine Pause machen, keinen Schluck Wasser trinken: bei der Arbeit mit potenziell infizierten Menschen ist das verboten. Darüber hinaus war es in den PSA-Anzügen sehr heiß und es war echt schwierig, durch die Maske zu atmen.

Wir konnten auch nicht immer auf die Toilette gehen, denn dafür musste man zuerst den Schutzanzug ausziehen, die Inspektionszone verlassen und die Hände desinfizieren. Es war so aufwendig, dass es für mich einfacher war, bis nach meiner Schicht durchzuhalten.

Nachdem wir alle Hauptflüge bearbeitet hatten, wurden wir vom Flughafen ins Krankenhaus zurückgeschickt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Moskau bereits die Quarantäne eingeführt.

Wir mussten aufhören, Patienten mit Lungenentzündungen im Krankenhaus aufzunehmen — sie wurden jetzt in spezielle Abteilungen anderer Krankenhäuser überwiesen. Alle geplanten Termine wurden ebenfalls abgesagt, nur Notfallpatienten wurden betreut. Fast jeder wurde auf Coronavirus getestet — alle zum Glück bisher negativ.

Aber die Situation in unserem Krankenhaus wird immer angespannter. Sowohl Ärzte als auch Patienten geraten in Panik, und niemand weiß, was auf uns zukommt. 

Die Patienten haben Angst, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, und sagen den Ärzten, dass ihr Fieber oder trockener Husten nur eine Erkältung sei. Manche brauchen viel Überzeugungsarbeit, um in die Sonderisolierstationen zu gehen.

Die Ärzte sind ebenfalls nervös. Wir verstehen alle, dass das Coronavirus zu wenig erforscht ist. Man weiß nie, wo oder wie man infiziert werden kann.

Ich untersuche 80 bis 200 Leute pro Schicht, danach gehe ich direkt nach Hause ins Bett. Trotzdem liebe ich meinen Job, ich befürchte nur, dass ich mich selbst infiziere und den Kranken nicht mehr helfen kann. Ich hoffe das alles endet bald.

Svetlana, Allgemeinärztin im Krankenhaus

Mein Arbeitstag sieht wie ein echter Albtraum aus. Seit zwei Wochen habe ich doppelt so viele Patienten wie zuvor, 40-50 Menschen pro Schicht. Wir haben nicht genug Ärzte: einer konnte den Stress nicht ertragen und hat mitten in der Pandemie gekündigt, eine andere Ärztin ging in Mutterschaftsurlaub. Jetzt haben wir also nur zwei Ärzte pro 10.000 Menschen.

Wir bieten auch Notfallversorgung an, aber die Anzahl der Beschwerden kann nicht behandelt werden. Seit dem 1. April mache ich Krankenwageneinsätze. Unsere Vorräte an Arzneimitteln für die häufigsten Krankheiten, wie akute Virusinfektionen der Atemwege, lassen uns den Patientenandrang mehr oder weniger bewältigen.

Die häufigste Anfrage von Patienten ist ein Coronavirus-Test. Es herrscht große Panik, besonders unter jungen Menschen. Wir dürfen jedoch nur Patienten mit Lungenentzündung testen, die aus dem Ausland eingeflogen sind oder mit jemandem Kontakt hatten, der vor kurzem im Ausland war. Wir erklären ihnen, dass das jetzt ein Gesetz sei, und dass sie einen privaten Test gegen Bezahlung machen können, wenn sie sich Sorgen machen.

Vor kurzem habe ich nach jeder Schicht eine Flasche Wein getrunken. Ich weiß, dass es schlecht ist, aber im Moment ist es der einzige Weg, mit dem Stress umzugehen.

Alexandra, Epidemiologin an einer Desinfektionsstation in St. Petersburg

Wir machen Desinfektionen: Immer, wenn es einen Brennpunkt einer Infektionskrankheit gibt, beauftragt uns Rospotrebnadzor [Föderaler Dienst für die Aufsicht im Bereich Verbraucherschutz und Schutz des menschlichen Wohlergehens]. Unsere Aufgabe ist es, die Grenzen des Brennpunkts zu bestimmen und den Behandlungsprozess zu kontrollieren.

Alles begann im “Severnaya” Hostel. Dort befand sich ein Student, der sich in Italien mit dem Coronavirus infiziert hatte. Nachdem er evakuiert war, begaben sich vier oder fünf Teams zum Hostel und desinfizierten das gesamte Gebäude. Wir haben auch alle Kleidungsstücke, Decken, Matratzen, Bettwäsche und Handtücher des Patienten entnommen. Alles, was mit dem Patienten in Kontakt gekommen war, wurde bei 60°C in speziellen Desinfektionskammern gereinigt. Als ich an diesem Tag nach Hause kam, ließ ich mich völlig erschöpft auf mein Bett fallen.

Nach der Desinfektion wurden alle Studenten zwei Wochen lang unter Quarantäne gestellt, und nach der Quarantäne überprüften weitere sechs Teams, ob die Infektion abgeklungen war.

Jetzt gibt es wegen all der bestätigten Fälle von Coronavirus viel Arbeit. Unsere Teams setzen sich in der Regel aus Ärzten sowie Bakteriologen und Mikrobiologen zusammen. Es gibt nicht genug Spezialisten und die Infektionen nehmen zu. Zu jeder Zeit, Tag und Nacht, kann man uns in eine andere heiße Zone rufen. Es ist ermüdend.

Rano Amirbekova, Allgemeinärztin

Die russischen Ambulanzen richten jetzt spezielle Krankenwagenteams ein. Wir haben katastrophal wenig Ärzte, insbesondere Allgemeinärzte. Deswegen behandeln im Moment Rheumatologen, Chirurgen und Neurologen allgemeine Erkrankungen. Hausärzte wie ich hingegen werden im Kampf gegen COVID-19 eingesetzt. Wir machen bei Personen mit Verdachtsmomenten beziehungsweise bereits erkrankten Menschen Hausbesuche. 

Mein Arbeitstag beginnt um 8 Uhr und endet um 20 Uhr, wenn ich Glück habe, aber danach gibt es noch viel Papierarbeit zu erledigen. 

Wir arbeiten in 2-2- oder 2-1-Schichten [zwei Tage Arbeit, zwei Tage frei oder 2 Tage Arbeit, ein Tag frei]. Aber selbst an „freien Tagen“ müssen wir Verwaltungsarbeit verrichten. Als Hausarzt kümmere ich mich um ganze Familien. Patienten im kritischen Zustand haben meine Telefonnummer. Wir sind immer im Kontakt, manchmal gebe ich auch Online-Beratungen.

Jetzt ist es sehr schwierig, mit dem Patientenandrang fertig zu werden. Schließlich muss man es schaffen, möglichst viele Leute in einer Schicht zu besuchen. Ob es 16 oder 34 Patienten werden, kann man nie wissen. Für die Coronavirus-Teams wurden Autos mit Fahrern bereitgestellt, und es fährt auch ein Polizist mit uns.

Manchmal benehmen sich die Leute seltsam. Jeder, den wir sehen, möchte wissen, ob wir das Coronavirus gefunden haben. Einige Patienten glauben überhaupt nicht an Coronavirus und möchten nicht getestet werden. Sie sagen, es sei alles eine Verschwörung der Regierung, und wir müssen sie vom Gegenteil überzeugen.

Aufgrund des speziellen Arbeitsregimes kann man auch nicht einmal normale Gesichtscreme verwenden. Nach 12 Stunden in einer Maske fühlt sich Ihr Gesicht fremd an. Ich versuche, das Unbehagen zu ignorieren und mache einfach meinen Job weiter.

Meine Motivation sind die Menschen selbst. Gestern wurde ich zu einem Patienten gerufen, der aus Indonesien zurückgeflogen war. Am Ende der Untersuchung sagte er: „Danke, Doktor. Wir schätzen Sie wirklich sehr”. Ich glaube es war mein 28. Einsatz an diesem Tag, ich war noch auf den Beinen und hoffte, dass dieses Coronavirus-Ding ein Albtraum war, aus dem ich aufwachen würde. Aber nach diesen Worten war ich bereit, noch weitere 30 Patienten zu untersuchen.

Ich hoffe wirklich, dass die Menschen in Russland nach der Krise ihre Haltung gegenüber Ärzten und dem Gesundheitswesen überdenken und unseren Job mehr schätzen werden.

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