10 St. Petersburger, die die Selbstisolation in einer Geisterstadt erleben

Ruslan Schamukow
“Verlassen Sie den Raum nicht, machen Sie keinen Fehler”. Diese Zeilen des berühmten russischen Dichters Joseph Brodsky haben heutzutage eine neue Bedeutung erlangt.

Zum ersten Mal seit der Leningrader Blockade erscheint die Stadt so unheimlich still und verlassen. Wir haben versucht, einige Petersburger anzutreffen und ihre Strategien für den Umgang mit der völligen Selbstisolation in der Coronakrise herauszufinden.

  1. Andrei Batalow, 16, Schüler

Meine Stimmung ist fast so wie in den Ferien, obwohl es weniger Kraft und Motivation gibt, um etwas zu tun. Die ganze Woche, seit ich von einer Studienreise nach Großbritannien zurückgekommen bin, war ich nur zu Hause, ging manchmal raus für ein kurzes Training, ansonsten nichts Besonderes: Filme schauen, Computer spielen, mit Freunden online unterhalten.

Das Fernstudium beginnt bald, daher fange ich schon an, mich auf den Unterricht vorzubereiten. Allerdings finde ich es schrecklich, unter Quarantäne gestellt zu werden. Es ist schwer, sich zu irgendwas zu zwingen. Man wird ganz schnell müde, obwohl man wenig tut, und es fehlt uns die normale Kommunikation.

  1. Jewgenia Sarukina, 24, Chefin der ‘El Capitas’ Bar (bewertet unter den 50 weltbesten Bars 2019)

Es nützt nichts, zum x-ten Mal dramatisch zu werden und sich auf das Negative zu konzentrieren. Stattdessen achten wir jetzt darauf, das Team zu erhalten und Entlassungen zu vermeiden. Jeder wird finanziell versorgt mit einer Summe, die mit Sicherheit für Miete und persönliche Grundkosten ausreicht.

Wir arbeiten zurzeit in fünf Richtungen: Lieferung von mexikanischem Essen; Live-Streams, in denen wir darüber erzählen, wie man unsere klassischen Getränke zu Hause zubereiten kann; eine „Hotline“ auf Instagram, wo uns die Leute Zutaten schicken können und wir schlagen ihnen ein Cocktailrezept aus diesen Zutaten vor; Online-Kommunikation und Chats mit Freunden und Mitgliedern unser Bar; und Barkeeper-Onlinekurse für Brancheninteressierte.

  1. Swetlana Wanjulina, 31, arbeitslos 

Letzte Woche habe ich meinen Job im Tourismus verloren. Diesen Monat sollte ich von einer Buchungsagentin zur Rückreisespezialistin wechseln. In dieser Industrie gibt es einen Bedarf an neuen Strategien. Welche? Ich weiß es nicht.

Was mache ich als nächstes? Ich überlege es mir gerade. Ich wünsche jetzt allen, die sich außerhalb ihrer Komfortzone befinden, genug Energie und Potenzial zur Selbstentwicklung zu haben.

  1. Eldar Kabirow, 36, Mitinhaber bei ‘22 Centimeters’ Pizza und ‘Red. Steak & Wine’ Steak House

Ich bin seit 2000 in dieser Branche, aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Wir sollten alle in die “Ferien” gehen - nicht nur die Restaurants, die gesamte Industrie.

Ob wir ab 30. April uns wieder an die Arbeit machen können, bin ich mir nicht sicher, aber irgendwann machen wir bestimmt wieder auf. Ich lade alle zu einem Glas Wein ein, wenn das alles vorbei ist. Dann müssen wir zusammen was trinken und lachen und weiter zum normalen Leben zurückkommen.

  1. Dmitri Ganopolski, 37, Stadtführer und Fotograf

Offen gesagt, ist es schwer, dies alles anders als eine Katastrophe zu beschreiben. Im Tourismussektor werden wohl nur die Stärksten und Geschicktesten diese Krise überleben, da es für einige Zeit kein Geschäft mehr in der Branche geben wird. Zu diesem Zeitpunkt ist es jedoch unmöglich, Prognosen zu machen – egal was wir uns vorstellen, die Situation wird sich unvorhersehbar entwickeln.

Einerseits, sollten wir alle darüber nachdenken, wie wir unsere Arbeit online machen können. Andererseits, kann es sein, dass viele Leute nach ein paar Wochen zu Hause vor dem Bildschirm ein Burnout haben. Ich würde jedenfalls allen vorschlagen, sich weiterzubilden, solange man Zeit dafür hat.

  1. Grigori Swerdlin, 41, Direktor von ‘Notschleschka’ Hilfswerk für Obdachlose

Seit dem 17. März haben wir den Betrieb in unserer Rechtsberatungsabteilung sowie den Wäscheservice eingestellt - beide hatten normalerweise 30 bis 60 Kunden pro Tag. Andere Projekte, wie drei Rehabilitationszentren, zwei Aufwärmstationen und ein Nachtbus, funktionieren weiterhin. Täglich erhalten rund 300 Menschen unsere Unterstützung. In jedem laufenden Projekt wurden zusätzliche Maßnahmen sowie die obligatorische Benutzung von Masken und Desinfektionsmitteln eingeführt.

Wir haben auch eine Coronavirus-Broschüre herausgegeben. Dies ist wichtig, da die meisten Obdachlosen keinen anderen Zugang zu Informationen haben.

  1. Dmitry Grosny, 49, Journalist und Chefredakteur bei MarketMedia

Das Mantra Keine Panik, sondern Handeln ist zu einem Slogan für unser Wohltätigkeitsprojekt #поддерживрача (Unterstütze einen Arzt) geworden. Wir suchen Krankenhäuser, die Hilfe benötigen, und Unternehmen, die bereit sind, diese bereitzustellen.

Zuerst haben wir uns auf Backwaren, Kekse, Gebäck, Zefir, Süßigkeiten und Milchshakes konzentriert, dann kamen zu dieser Liste aber ziemlich schnell Uniformen, Schutzbrillen, Atemschutzgeräte, Wasser und Powerbanks hinzu. Mehrere Unternehmen haben angefangen, medizinischen Mitarbeitern kostenlose warme Mittagessen zu servieren. 

Die Anzahl der Teilnehmer der Aktion ist bereits über 20 gestiegen. Ich mag keine großen Worte, aber ich bin echt froh, dass es so viele gute Menschen unter uns gibt.

  1. Witalij Ossiptschuk, 52, Psychotherapeut

Die Leute versuchen sich zu isolieren, sie wollen nicht mehr den Arzt besuchen. Seit anderthalb Wochen wechseln die Menschen zur Online-Kommunikation. Gestern haben wir beispielsweise zwei Termine gehabt, die diesem Problem gewidmet waren.

Meine Aufgabe ist es, den Patienten zu helfen, diese Gedanken zu erkennen und sie ins rechte Licht zu rücken. Wenn man sich laut ausspricht, ist die Spannung weg. Danach können wir anfangen, rational zu denken und handlungsbasierte Ansätze zu besprechen.

  1. Silvia Ruth Fernandez Caria, 58, Italienische Expat, geboren in Argentinien

Die Straßen, die früher mit Menschen gefüllt waren, sind jetzt leer. Meine Familie aus drei Menschen ist isoliert, und ich gehe alle zwei oder drei Tage raus, um im Supermarkt das Nötigste zu kaufen.

Ich koche, schreibe, male mit Ölfarben, räume Kleiderschränke auf, mache Hausarbeiten, bemale Porzellan, studiere, organisiere Archive, folge FB und WhatsApp, spreche mit meinen Freunden und meiner Familie auf der ganzen Welt. Ich gebe zu, dass ich diese Situation sehr genieße, weil ich eine lange Liste von Dingen und Projekten habe, die ich alleine erledigen muss.

  1. Tamara Miroschnitschenko, 62, Mitarbeiterin des Schulmuseums im Leningrader Gebiet

In unserem Regionalmuseum wird nicht nur von Vergangenheit erzählt. Wir arbeiten auch ganz viel mit Schulkindern zusammen. Jetzt haben wir das Tagebuch eines Kriegsveteranen, der den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, kopiert und diese Kopie unter Schülern verteilt. Zusammen möchten wir das Tagebuch abtippen, um zum 75. Jahrestag des Sieges eine online Version zu erstellen.

Die Quarantäne hat uns natürlich ein bisschen aus dem Ruder gebracht. Wir arbeiten aber weiterhin online.

>>> So sieht Moskau in der ersten Woche der strengen Selbstisolation aus (FOTOS)

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