Maßnahmen gegen das Coronavirus: Wann kommt der Exit in Russland?

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Noch immer ist der Höhepunkt der Coronavirus-Pandemie weder in Moskau noch in anderen russischen Regionen erreicht. Die tägliche Infektionszahl liegt landesweit bei rund 2.800, davon etwa 2.000 in Moskau und Umgebung. Es scheint, dass die Russen noch eine Weile Geduld haben müssen.

Wann wird der Höhepunkt der Pandemie erreicht sein? 

In Russland rechnen Forscher mit einem Höhepunkt der Corona-Pandemie erst Ende April/Anfang Mai. Diese Meinung vertritt auch der Biowissenschaftler Dr. Michail Kirpitschnikow von der Russischen Akademie der Wissenschaften in einem Interview (rus) mit der Zeitung „Parliamentskaja Gaseta“. Bis dahin werde es einen enormen Anstieg bei den Infizierten und den Todesfällen geben. „Dann erreichen wir ein Plateau. Wie lange diese Phase dann andauern werde, ist schwer zu sagen. Vor allem ist es wichtig, die hygienischen und epidemiologischen Vorschriften der Regierung einzuhalten“, betonte Kirpitschnikow. 

Der Infektiologe Viktor Malejew von der Russischen Akademie der Wissenschaften berät den Direktor des Zentralen Forschungsinstituts für Epidemiologie bei der russischen Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor. Er rechnet (rus) auf dem Höhepunkt der Coronavirus-Pandemie in Moskau mit 20.000 bis 25.000 Infizierten. In den Regionen geht er davon aus, dass die Zahlen noch weiter steigen werden, selbst wenn in Moskau der Höhepunkt erreicht wurde. Die russischen Behörden hoffen indes auf eine andere Entwicklung. 

Wann kommt der Exit?

Die stellvertretende Ministerpräsidentin Tatjana Golikowa erklärte (rus) am 12. April, dass die ersten Auswirkungen der Ausgangsbeschränkungen um den 14. bis 16. April herum spürbar werden. „In diesem Zeitraum kommt der Punkt, an dem wir entweder ein Abflachen der Kurve oder einen weiteren Anstieg beobachten werden“, sagte Golikowa und erteilte einem schnellen Exit eine klare Absage.

Es gebe keine Aussicht darauf, dass die Maßnahmen vor dem 9. Mai, dem Tag des Sieges, aufgehoben würden, stellte die Politikerin klar. Sie geht sogar davon aus, dass erst im Juni mit einem Ende der restriktiven Maßnahmen zu rechnen sei. Und das auch nur dann, wenn die Russen bis dahin weiterhin strikt das Selbstisolationsregime befolgen. 

Wiktor Malejew stimmt dem zu, dass im Juni die Ausbreitung des Coronavirus weitgehend unter Kontrolle sein könnte. Er merkt jedoch an, dass dies die „optimistischste“ aller Prognosen sei. 

Der Mediziner Professor Anatoli Alstein erklärt, dass die Pandemie erst dann überstanden sei, wenn 14 Tage nach der Genesung des letzten Patienten vergangen seien. Er weist daraufhin, dass die Selbstisolation nicht an allen Orten zugleich aufgehoben werden sollte. „Die Epidemie wird noch länger andauern und einige Beschränkungen werden bleiben. Für bestimmte Personengruppen müssen Tests durchgeführt werden und ein teilweises Selbstisolierungsregime. Es wird keine schnelle Rückkehr zum normalen Leben geben“, ist sich Alstein sicher.

Ein mathematischer Ansatz

Ein Benutzer von habr.com, einem russischen IT-Blog, entwickelte ein mathematisches Modell (rus), das vorhersagt, dass die Pandemie in 37 Tagen (d.h. Anfang Mai) ihren Höhepunkt erreichen und die Anzahl schwerwiegender Fälle 100.000 pro Tag überschreiten würde.

„Die Zahl der Coronavirus-Patienten in Russland steigt täglich um mehr als 25 Prozent. Das bedeutet zehn Mal so viel in zehn Tagen, 1.000 Mal so viel im Monat. Bei dieser Rate werden wir in einem Monat Hunderttausende von Patienten haben. Durch das Einhalten strengster Quarantänemaßnahmen, wie zum Beispiel in Italien, könnte die tägliche Wachstumsrate auf 13 Prozent gesenkt werden. Die Quarantäne ruiniert jedoch die Wirtschaft und dennoch wird das Ziel, die Belastung des Gesundheitssystems auf ein akzeptables Maß zu reduzieren, nicht erreicht“, so der Autor.  

Seiner Ansicht nach kann nur die strikte Isolation älterer Menschen und chronisch Kranker in Hotels und Kureinrichtungen dazu beitragen, die tägliche Inzidenzrate zu senken. In diesem Fall könnte die Zahl der Neuinfektionen auf 8.700 pro Tag reduziert werden.  

„Es sollten dabei sehr strenge Vorschriften gelten. Das Personal im Gesundheitswesen sollte isoliert werden und darf die Quarantäne nicht von sich aus beenden. Dies sollte von der Nationalgarde durchgesetzt werden. Die ersten zwei Wochen der Quarantäne müssen sehr streng eingehalten werden. Für andere Bewohner Russlands kann die Quarantäne aufgehoben oder gelockert werden“, so sein Vorschlag. 

Wie wird sich das Leben in Russland nach der Pandemie verändern?

Roman Trozenko, Inhaber der Investmentholding AEON Corporation, sagte (rus) während des Online-Gipfels „Die Geschäftswelt nach der Pandemie“ am 9. April, dass 30 Prozent der Unternehmen in Russland nicht mehr existieren würden. Die Menschen rechnen mit weniger Einkommen und wollen daher lange Zeit sparsamer leben, meint  Trozenko. 

Darüber hinaus werden viele Unternehmen, die ihre Mitarbeiter ins Homeoffice geschickt haben, dieses auch nach der Pandemie fortführen, meint Denis Sokolow, Partner und Forschungsleiter bei Cushman & Wakefield, einem globalen Unternehmen für gewerbliche Immobiliendienstleistungen. Zudem würden auch Massenveranstaltungen zunehmend ins Internet verlagert werden, ist er überzeugt. 

Ruben Enikolopow, Professor an der New Economic School in Moskau, rechnet (rus) mit einem Anstieg des Onlinehandels im Non-Food-Bereich. Die daraufhin leerstehenden Räumlichkeiten in Einkaufszentren würden in Gemeinschaftsbüros umgewandelt, glaubt er. Coworking-Spaces würden zukünftig nicht nur in den Innenstädten zu finden sein, sondern auch in Wohngebieten. 

Enikolopow ist sich sicher, dass die regulären Schulen wieder offline unterrichten werden, aber die Eltern werden ihre Kinder häufiger zu Online-Kursen anmelden. 

Und schließlich müsse Russland mehr in Gesundheit und Medizin investieren. „Wir sehen heute wie nie zuvor die Risiken, denen Länder mit unzureichender Gesundheitsversorgung ausgesetzt sind, und die nicht in der Lage sind, auf neu auftretende Bedrohungen zu reagieren. Die Krise in Russland könnte weniger schwerwiegend sein, wenn wir beispielsweise ein fortschrittlicheres System zur Diagnose von Krankheiten hätten “, argumentiert Enikolopow.

>>> Wie überleben die Russen, die durch das Coronavirus ihre Arbeit verloren haben?

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