Methode Walross: Eiskaltes Wasser gegen das Altern

Natalia Beljakowa
Im kleinen Dorf Tschuraptsche in Jakutien leben Walrösser. So werden die Bewohner genannt, die auch bei frostigen Temperaturen regelmäßig ein Eisbad nehmen.

Ganz gewöhnliche Menschen im Alter zwischen 30 und 90 Jahren laufen entspannt von einer nahegelegenen Hütte zu einem Eisloch. Sie tragen nur einen Überwurf und haben sich ein Frotteetuch um den Hals gelegt. Ihre Körper sind nicht weiter auffällig, einige sind sehr schlank. Sie lassen ihre Badeschuhe im Schnee und steigen vorsichtig über eine schmale Holztreppe in das Eisloch. Dort bleiben sie bis zu zehn Minuten. 

Zum Schluss tauchen sie vollständig unter. Ganz langsam steigen sie wieder aus dem Wasser. Ohne jede Eile. Auch das anschließende Abreiben des Körpers mit Schnee hat nichts von Hektik. Allein durch Zuschauen könnte man in Trance geraten. 

Das Akku vom Smartphone entlädt bei diesen extremen Temperaturen sehr schnell, so dass man diese Erinnerungen nur im Kopf behalten kann. 

Die Szene dieses Rituals der моржи („Walrosse“, wie Eisschwimmer in Russland oft genannt werden) wurde im Dorf Tschuraptsche in Jakutien beobachtet. Es gilt als einer der kältesten Orte der Welt.

Die Republik Sacha (oder Jakutien) ist die größte Region in Russland. Das Land ist bekannt für seine eisige Kälte. Das Eis dort wird bis zu 400 Meter dick und die Temperaturen sinken regelmäßig unter -45 °C. Sacha liegt direkt am Kältepol der nördlichen Hemisphäre. Für den Reisenden macht ein Grad mehr oder weniger kaum einen Unterschied. Anders ist das bei den „Cold Conquerors“, zu Deutsch „Eroberer der Kälte“, für die es gar nicht kalt genug sein kann. Es ist ein großes Projekt, bei dem ich sie begleiten durfte. 

Die Walrösser 

Die Eroberer reisen Ende Januar in der kältesten Zeit des Jahres in die Tiefebene von Sacha, wo sich die kalte Luft sammelt. Es gibt dort viele Wetterstationen und Außenposten, die nur mit Rentierschlitten oder mit Schneemobilen erreichbar sind. Das begehrte Ziel der Eroberer ist es, die tiefste Temperatur des Jahres zu messen. Angesichts der globalen Erderwärmung könnten die Tage von Rekordminustemperaturen gezählt sein. 

Auf ihrem Weg in die Tiefebene machen die Eroberer immer in Tschuraptsche Halt, um die menschlichen Walrösser zu beobachten. Die haben viele Namen: Die Finnen nennen sie „Spitzmäuse“ oder „Robben“, die Nordamerikaner „Eisbären“. Es ist ganz gleich, wie man sie nennt, sie dabei zu beobachten, wie sie sich wie ein Polartier verhalten ist faszinierend. Es sind Menschen wie Du und ich. 

Das Wetter ist so extrem, dass Dampf aus dem Wasser aufsteigt, der zu einer dünnen Eisschicht gefriert und erst einmal durchbrochen werden muss. Bei einer Außentemperatur von -30 Grad Celsius, hat das Wasser etwa +4 Grad. Dies ist der Punkt des Phasenübergangs, an dem das Wasser inert wird - noch nicht ganz Eis, aber auch nicht mehr ganz flüssig. Es reagiert nur noch ganz langsam. Noch funktioniert der Körper, unterhalb solcher Temperaturen beginnt für ihn Stress. 

Die „Walrösser“ von Jakutien bleiben ganz entspannt. Sie meditieren während des Eistauchens. „Was empfinden Sie?“, fragt einer der Eroberer ein „Walross“. Doch das Interesse an der Antwort ist rein wissenschaftlich. 

Ein Leben als „Walross“ 

Einige Momente später, als der Gründer des örtlichen „Clubs für Winterschwimmen“ das Eis verlässt, wird die Kommunikation auf Russisch fortgesetzt. Der 90-jährige Afanasi Dorofejew setzt sich in eine Schneeverwehung und erzählt, wie die traditionelle Medizin ihn im Alter von nur 48 Jahren aufgab. Seine Gene würden ihm kein langes Leben bescheren, hieß es. Er beschloss jedoch, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und wurde zum „Walross“. 

Auf dem Rückweg vom Eisloch erzählt er seine Geschichte. Dabei geht er sehr langsam, während wir es, trotz wintertauglicher Kleidung, kaum erwarten können, wieder ins Haus zu kommen. Man sieht Afanasi die Gesundheit an: Er ist schlank, hat eine großartige Haltung und einen gesunden Geist und leidet erstaunlicherweise nicht unter den für sein Alter üblichen Beschwerden. Er ist ein lebender Beweis für die Wirksamkeit eines Lebens als „Walross“. Die extreme Kälte verlangsamt den Alterungsprozess. 

Afanasi konnte nach und nach auch andere begeistern. Der Club besteht aus zwölf bis 20 Personen - die meisten von ihnen aus dem Dorf, aber es gibt auch Neuzugänge aus anderen Gebieten von Sacha. Diejenigen, die ihr Immunsystem trainieren, um das ganze Jahr über der Kälte standzuhalten, können alle paar Tage Eislochübungen durchführen. Die Einhaltung eines festgelegten Rhythmus und die schrittweise Vorbereitung auf Temperaturschwankungen garantieren den Erfolg. Geduld ist beim Training gefragt. Jeder hat sein eigenes Tempo. 

Afanasi kennt die Geschichte jedes einzelnen Mitglieds. Einer ist gekommen, um das Herz-Kreislaufsystem auf alternative Weise zu stärken, ein anderer, um den Organismus insgesamt abzuhärten. 

Afanasi ist vor meinen Augen einmal neun Minuten im Eisloch gewesen. Anfänger verbringen darin anfangs nicht mehr als zwei bis drei Minuten. Wann der Ausstieg erfolgt, bestimmt allein Afanasi. „Er kennt den richtigen Moment“, sagen die anderen. 

Die Tschuraptsche-Walrosse werden von Außenstehenden manchmal als Sekte bezeichnet - aber nur scherzhaft. Es ist eine für jedermann offene Gesellschaft von Menschen mit unterschiedlichen Interessen, die immer bereit sind, ihre Erfahrungen mit der Außenwelt zu teilen. Der einzige Fehler, den Sie machen können, ist der Versuch, das Alter der Personen zu schätzen. Afanasi und seine Anhänger können sich locker zehn Jahre jünger machen, denn so sehen sie auch aus, mindestens.  

„Wie war es beim ersten Mal? War das erschreckend?“, frage ich Afanasi. „Kalt ist es nur draußen, wir haben Wärme im Inneren“, antwortet er mit einem Lächeln.

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