Sinneswandel: Die Russen ändern ihre Einstellung zu häuslicher Gewalt

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WIKTORIA RJABIKOWA
Dieses traurige Thema taucht immer häufiger in den Medien auf. Doch noch immer fehlen Gesetze und angemessene Strafen gegen häusliche Gewalt.

„Du musst psychisch krank sein, um Dich vor eine Kamera zu stellen und zu sagen: ‚Oh mein Gott, mein Mann schlägt mich!‘ Warum fragst Du Dich nicht, was Du getan hast, damit er Dich schlägt?“ Diese Aussage der in Russland sehr beliebten Bloggerin und TV-Moderatorin Regina Todorenko in einem Interview mit „PeopleTalk“ im April 2020 kosteten sie ihre Werbeverträge mit Pepsi und Pampers. 

Todorenko entschuldigte sich später für ihre Worte, drehte eine YouTube-Dokumentation über häusliche Gewalt mit dem Titel „Was habe ich getan, um zu helfen?“ Außerdem spendete sie zwei Millionen Rubel (24.500 Euro) an Violence.net, eine Organisation für Opfer häuslicher Gewalt.

Im Jahr 2017 befürworteten 59 Prozent der Russen die Idee, häusliche Gewalt als Ordnungswidrigkeit und nicht als Straftat einzustufen. 19 Prozent hielten es für akzeptabel, den Ehepartner oder das Kind zu schlagen, ergab eine Umfrage des Allrussischen Zentrums für öffentliche Meinungsforschung (WZIOM). 

Ende 2019 hatte sich die Situation jedoch geändert: Nun gaben 90 Prozent der befragten Russen an, körperliche Gewalt für inakzeptabel zu halten, und weitere 50 Prozent erklärten, dass Übergriffe und  Körperverletzung in der häuslichen Umgebung unverzeihlich seien. Wie kam es zu diesem Sinneswandel? 

Traurige Statistiken und massenhaft Bekenntnisse 

Die globale Bewegung #MeToo erreichte 2018 auch Russland. Zum ersten Mal sprachen viele Russinnen öffentlich darüber, wie sie unter Belästigung sowie physischer und psychischer Gewalt gelitten hatten. Danach begannen russische Frauen, Online-Flashmobs zu starten, unter anderem gegen häusliche Gewalt. Sie luden beispielsweise Fotos hoch, auf denen sie sich Blutergüsse geschminkt hatten oder sprachen über ihre Erfahrungen mit Gewalt und Belästigung

Russische Prominente haben dazu beigetragen, das Problem noch bekannter zu machen. Zum Beispiel erzählte die Sängerin Nargis Zakirowa, dass auch sie Opfer häuslicher Gewalt wurde.  „Als er zum ersten Mal seine Hand gegen mich erhob, war ich im sechsten Monat schwanger. Er drückte mich gewaltsam aufs Bett und ich schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Ich habe nicht die Scheidung eingereicht. Im Gegenteil, ich habe versucht, sein Verhalten zu rechtfertigen, indem ich mir sagte, er hätte einen schlechten Tag auf der Arbeit gehabt“, sagte Zakirowa 2018 über ihren mittlerweile geschiedenen Ehemann. 

Im Jahr 2017 gaben 33 Prozent der Russen an, jemanden zu kennen, der häusliche Gewalt erlebt hat. Im Jahr 2019 stieg diese Zahl laut WZIOM auf 40 Prozent. 

Es ist nicht genau bekannt, wie viele russische Frauen häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, aber 2019 sprach die Organisation Allrussischer Elternwiderstand von 16 Millionen Frauen, die jedes Jahr physische und psychische Gewalt erleiden.

Im Jahr 2020 nimmt die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt in Russland weiter zu, was teilweise auf die Coronavirus-Pandemie zurückzuführen ist. Während des Lockdowns stiegen die Fälle um das 2,5-fache, erklärte Tatjana Moskalkowa, die russische Menschenrechtsbeauftragte, im Mai 2020. Ende April schlugen die Abgeordneten der Staatsduma vor, während der Quarantänezeit Schutzräume für Opfer häuslicher Gewalt einzurichten. Im Innenministerium wollte man von einem Anstieg der Opferzahl jedoch nichts wissen. 

Besonders grausame Verbrechen 

In den letzten zwei Jahren ist auch die Zahl der Vorfälle gestiegen, die in die Schlagzeilen gelangten. Sie schockierten die Öffentlichkeit und lösten Mitgefühl mit den Betroffenen aus. 

„Dmitri hat mit einer Axt auf meine Hände eingeschlagen. Ich stürzte, doch er zielte noch mindestens zehn Mal auf meine Hände. Auf dem Weg [ins Krankenhaus] sagte Dmitri immer wieder laut: ‚Was für ein Adrenalin!‘“ Dieses Zitat stammt aus der Zeugenaussage der 27-jährigen Margarita Gratschewa, Mutter zweier Kinder, die in der Stadt Serpuchow in der Nähe von Moskau lebt. Am 11. Dezember 2017 schleppte ihr Mann seine Ehefrau in einem Anfall von Eifersucht in den Wald und versuchte, ihr die Hände abzuhacken. Er hatte sie bereits zuvor bedroht, und sie hatte Beschwerde bei der Polizei eingereicht, aber die Angelegenheit wurde nicht weiter verfolgt. Nach dem wilden Angriff fuhr Dmitri Margarita ins Krankenhaus und stellte sich dann der Polizei. 

Der Vorfall schaffte es in die nationalen Nachrichten, und Frauen gründeten in den sozialen Netzwerken für Margarita eine Gruppe zur Unterstützung. Das Gericht befand Dmitri für schuldig und verurteilte ihn zu 14 Jahren Haft in einer Strafkolonie. Den Ärzten gelang es, Margaritas linke Hand teilweise zu retten. Die rechte Hand musste jedoch durch eine Prothese ersetzt werden. Inzwischen hat Margarita ihr Trauma überwunden und sogar ein Buch darüber geschrieben.  

Ein ebenfalls viel diskutierter Fall war der der drei Chatschaturjan-Schwestern, die im Sommer 2018 ihren eigenen Vater töteten, nachdem sie viele Jahre häuslicher und sexueller Gewalt ausgesetzt waren. Nach langwierigen Ermittlungen und öffentlichen Protesten weigerten sich die Ermittler, die Anklage als Notwehr einzustufen. Wenn die Mädchen für schuldig befunden werden, drohen ihnen zwischen acht und 20 Jahren Gefängnis wegen Verabredung zum Mord. Zur Unterstützung der Schwestern wurden mehrere Kundgebungen abgehalten. Eine Petition, in der ihr Freispruch gefordert wird, hat bisher rund 400.000 Unterschriften gesammelt. Die Schwestern bleiben vorerst in Haft. Das Strafverfahren wurde erst im Juli 2020 vor einem Moskauer Gericht eröffnet. 

„Offenheit, die Fähigkeit, über schwierige Dinge zu sprechen, und der Wunsch, andere zu unterstützen und ihnen zu helfen, unterstützen die Bewegung gegen Gewalt. Dokumentarfilme über häusliche Gewalt, hochkarätige Fälle und Prominente, die über ihre Erfahrungen sprechen, haben einen starken Einfluss auf die öffentliche Meinung. Die Menschen haben begonnen, offen über häusliche Gewalt zu sprechen, und sie als ein Problem erkannt, dem vorgebeugt werden muss. Die Einstellung in Russland ändert sich“, sagt die Psychologin Sijada Sajdutowa. 

Die öffentliche Meinung habe wiederum Auswirkungen auf das Leben und die Sicherheit der einzelnen Menschen, fährt sie fort. Insbesondere Online-Informationsportale, Helfer-Hotlines und Zentren zur Unterstützung der Opfer werden in Russland immer mehr und häusliche Gewalt immer weniger toleriert. 

Warten auf ein Gesetz 

In Russland muss der Gesetzesentwurf gegen häusliche Gewalt noch verabschiedet werden. Der endgültige Text wurde im November 2019 auf der Website des Föderationsrates veröffentlicht, aber der Wortlaut wurde allgemein kritisiert. Der Föderationsrat hatte geplant, ihn im Frühjahr 2020 zu überarbeiten und zu verabschieden, aber bisher ist nichts geschehen. 

Stattdessen ist in Russland seit Februar 2017 das Gesetz zur Entkriminalisierung häuslicher Gewalt in Kraft. Nach diesem Gesetz gilt der erste gemeldete Übergriff als Ordnungswidrigkeit und nicht als Straftat und wird mit einem Bußgeld von 5.000 bis 30.000 Rubel (etwa 60 bis 370 Euro) oder 15 Tage Sozialdienst oder Ordnungshaft geahndet. 

Der zweite gemeldete Fall wird als Straftat registriert, für die die Geldstrafe auf 40.000 Rubel (etwa 490 Euro) ansteigt und Sozialdienst oder Arrest für bis zu drei Monate verhängt werden kann. Kommt es bereits beim ersten Übergriff zu einer Körperverletzung, kann das zu zwei Jahren Gefängnis führen.

Darüber hinaus kann häusliche Gewalt nach drei weiteren Artikeln des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation verfolgt werden: Art. 115 („Vorsätzliche Zufügung von leichter Körperverletzung“), Art. 112 („Vorsätzliche Zufügung mäßiger Körperverletzung“), Art. 111 („Vorsätzliche Zufügung schwerer Körperverletzung“) sowie Art. 117 des Strafgesetzbuches („Folter“), erklärt Rechtsanwältin Olga Sulim.

Das Hauptproblem sind jedoch nicht die geltenden oder fehlenden Rechtsnormen, sondern die Strafverfolgungspraxis. Laut Sulim sind die Strafverfolgungsbehörden nicht bereit, die Aussagen der Opfer zu berücksichtigen, wenn keine sichtbaren Anzeichen einer Verletzung vorliegen. Die Richter neigen dazu, gegenüber den Tätern Nachsicht walten zu lassen. 

„Daher muss die Kontrolle über die Umsetzung der Rechtsvorschriften verschärft werden, was weniger eine Überarbeitung des rechtlichen Rahmens als vielmehr eine Stärkung der Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden und der sie überwachenden Strukturen erfordert“, erklärt die Anwältin. 

Gleichzeitig sieht das russische Recht keine vorbeugenden Maßnahmen gegen Gewalt vor - zum Beispiel das Recht, Straftätern die Kommunikation mit oder die Annäherung an ihre Opfer zu verbieten. Es gibt auch keine Strafen für Verstöße gegen ein solches Verbot, fügt Sulim hinzu.

„Wenn das Gesetz verabschiedet würde, würde dies die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt erheblich verringern, da potenzielle Täter abgeschreckt würden“, glaubt Olga Sulim.