Ein blauäugiger, blonder Teenager im Alter von etwa 15 Jahren sitzt an einem Tisch in einem kleinen Café. Das Mädchen hat vorher lange überlegt, was sie anziehen soll und sich dann für einen weiten Pullover und eine schwarze Jeans entschieden, um ihre dicken Beine und die Bauchfalten zu kaschieren.
Nach etwa zehn Minuten betritt ein Junge das Café. Sie springt fast auf vor Freude - er sieht genauso aus wie in seinem Online-Profil. Er hingegen starrt sie an und kann seine Enttäuschung nicht verbergen. Nach einer Weile lächelt er gequält und reicht ihr die Hand. Sie haben sich über ein soziales Netzwerk kennengelernt. Dies ist ihr erstes Date.
„Er war nett, stellte mir Fragen und lächelte mich an. Dann ging er zur Toilette und kam nicht mehr zurück. Eine Stunde lang habe ich gewartet. Er schickte eine Kurznachricht. Ich weiß nicht mehr genau, was darin stand, aber es ging um mein Gewicht und mein Aussehen. Er kannte von mir nur die vorteilhaftesten Fotos”, erzählt Ekaterina, das Mädchen aus dem Café.
Heute ist sie 27 Jahre alt und Psychologin. Ihr Leben wurde erst besser, nachdem sie 40 Kilogramm abgenommen hatte. Ekaterina hält Übergewicht in der Tat für ein großes Problem in Russland. Für noch problematischer hält sie allerdings die Einstellung gegenüber übergewichtigen Menschen.
Ekaterina ist sich sicher, dass Werbung mit Magermodels und Berichte über die Gewichtsabnahme von Prominenten Auswirkungen auf das Körperbild haben: „Beliebte russische Marken und Designer haben kaum Kleidung größer als Konfektionsgröße 46 im Angebot. Auch Unterwäsche ist ein Problem. Übergewichtigen bleiben H&M Plus oder Asos und Pretty Little Things. Doch das sind alles ausländische Marken. Übergrößenmodelle gelten in Russland nach wie vor als ‚exotisch‘. Der Tag, an dem russische Medien eine dralle Frau sexy nennen, liegt noch in weiter Ferne”, bedauert Ekaterina.
Sie glaubt, dass dies mit ein Grund dafür ist, dass viele Männer eine Frau mit ein paar Kilos zu viel nicht attraktiv finden.
„Vielleicht haben sie eine tolle Persönlichkeit, aber nicht jeder mag das. Die Mädchen müssen sich damit abfinden und sollten nicht beleidigt sein”, so das Urteil des 29jährigen Verkaufsleiters Jegor zu korpulenten Frauen.
Die meisten Männer, mit denen ich gesprochen habe, waren seiner Meinung. Systemadministrator Alexander, 36 Jahre alt, erklärt, er habe keine Probleme mit übergewichtigen Frauen, doch er gibt zu, dass er keinesfalls eine Beziehung mit einer führen könne. „Ich finde es einfach nicht erregend. Es ekelt mich an, mir die Fettmassen auch nur vorzustellen”, sagt er.
Dmitri ist 32 Jahre alt und Produktmanager bei einer Maklerfirma. Er findet, Fettleibigkeit sei kein Grund, jemanden nicht kennenzulernen, doch er habe auch Mitleid mit extrem Übergewichtigen und vermutet hinter ihren Kilos eine Stoffwechselstörung.
Die Zahl der übergewichtigen Russen hat sich seit 2011 verdoppelt, sagt Irina Bragina, stellvertretende Leiterin des Föderalen Dienstes für die Aufsicht im Bereich Verbraucherschutz und Schutz des menschlichen Wohlergehens (Rospotrebnadsor), in der Zeitung „Ria Nowosti”. Mehr als die Hälfte aller über 30-jährigen Russen gelte als übergewichtig.
Die negative Haltung gegenüber Übergewichtigen habe ihre Ursachen im menschlichen Unterbewusstsein, meint die Psychologin Irina Rischkowa. „Dicke Leute wirken groß. Es scheint schwierig, sich körperlich gegen sie durchzusetzen. Daher wirken sie bedrohlich. Dieser unterbewusste Gedanke führt dazu, den Kontakt zu übergewichtigen Personen zu meiden”, erklärt sie. „Die moderne Psychologie interpretiert Übergewicht aber auch als Schutzwall gegen andere Menschen und negative Erfahrungen”, so Rischkowa weiter.
„Doch schauen Sie sich berühmte und erfolgreiche Übergewichtige an. Ihr Geheimnis ist, dass sie das Leben dennoch genießen. Sie ziehen andere Menschen mit ihrem Selbstvertrauen und Charisma an. Sie wissen sich selbst zu schätzen. Arbeiten Sie an ihrem Selbstwertgefühl, dann kommen Sie mit jeder Lebenssituation zurecht”, empfiehlt die Psychologin.
Die 28-jährige Künstlerin Margarita war immer mager, bevor sie durch einen ungesunden Lebensstil in zwei Jahren 25 Kilogramm zulegte. „Es ist in Ordnung für mich und meinen Ehemann, obwohl ich schon ein bisschen abnehmen möchte. Aber meine Großmutter sagte, ich sähe aus wie eine Kuh und meine Tante gibt mir ständig Diätratschläge.“ Auf der Straße falle sie durch ihr Gewicht nicht auf, dagegen sei ihr Übergewicht unter den scheinbar wohlmeinenden Verwandten ein umso größeres Thema. Kräftige Frauen leiden zudem oft unter ihren Geschlechtsgenossinnen, die sie benutzen, um das eigene Selbstwertgefühlt zu steigern.
Frauen sind übrigens auch nicht sehr tolerant gegenüber übergewichtigen Männern. Die 23-jährige Fotografin Jewgenija hat lange Volleyball gespielt. Ihr erster Freund hatte einen sehr athletischen Körper. Sie kann sich ein Date mit einem übergewichtigen Mann nicht vorstellen. „Wenn ein Mann nicht einmal seinen eigenen Körper kontrollieren kann, was kann er mir dann geben?” Für Sie ist Fettleibigkeit ein Zeichen von Schwäche.
Der 25jährige Fotograf Anatoli war schon immer übergewichtig und für Mädchen nie attraktiv. Sein Übergewicht stieg nach einem Unfall, der ihn lange Zeit vom Sport abhielt, noch weiter. Obwohl er in den letzten 18 Monaten bereits mehr als 20 kg abgenommen hat, findet er noch immer keine Freundin. „Die Mädchen schämen sich, offen zu sagen, dass sie mich nicht mögen, weil ich fett bin. Sie wollen nicht mit einem Dicken ausgehen, höchstens aus Mitleid”, sagt er.
„Mein Ideal”, „Keine Frau, ein Traum”, „Pures Feuer” - das sind einige der Kommentare unter den Fotos von Plus-Size-Model Julia Gorodnaja in den sozialen Medien. Das letzte Mal, als sie wegen ihres Aussehens geärgert wurde, war sie noch in der High School. Sie ist 167 cm groß und wiegt 96 Kilogramm.
„Ich wurde schon immer gerne fotografiert. Das hat mir Selbstbewusstsein gegeben. Vor zwei Jahren habe ich einige meiner besten Fotos ausgewählt und an verschiedene Übergrößenhersteller geschickt. Viele haben mich zu einem Casting eingeladen. Mein Gewicht hat kaum jemanden gestört”, erzählt sie. Julia ist inzwischen verheiratet und kann sich nicht vorstellen, dass ein paar Pfunde ein Privatleben beeinträchtigen können.
„Das Problem ist nie das Gewicht, sondern Unsicherheit und nicht zu wissen, wie man sich präsentiert und gut pflegt”, meint Julia. „Frauen über 70 Kilogramm verstecken sich oft hinter Jeans und weiten Kleidern. Aber ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Wenn Sie sich nicht selbst lieben, wird Sie auch niemand anders mögen, nicht einmal, wenn Sie nur 50 Kilogramm wiegen. Es geht nicht darum, wie andere dich behandeln, sondern darum, wie du dich selbst behandelst”, ist Julia Gorodnaja überzeugt.
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