Warum die Russen den amerikanischen Rassismus nicht verstehen

AP; Legion Media
Ein in St. Petersburg lebender amerikanischer Schriftsteller spricht darüber, wie er die Einstellung der Russen zu Rassismus in den USA erlebt und erklärt die Black Lives Matter-Bewegung aus seiner Sicht.

Vor vier Jahren, als ich mich in Russland niederließ, fragte mich eine Frau nach Rassismus in Amerika. Sie sagte: „Das haben wir hier in Russland nicht, weil wir uns gegenseitig versklavt haben.“ 

Als ich fragte, was sie meinte, sagte sie: „Nun, es ist nicht so, dass ich meinen Nachbarn ansehen und sagen kann: Du, deine Vorfahren haben meine Vorfahren versklavt, und so ist es deine Schuld. Wir waren alle gleich, also hat niemand Schuld.“ 

Ich kannte sie nicht so gut, aber ich musste etwas sagen: „Weißt du, das ist nicht wirklich das, worum es bei Rassismus in Amerika geht. Es ist ein Teil davon, aber es geht nicht um ‚Deine Vorfahren haben meine versklavt, das war Rassismus‘. Amerika ist immer noch ein sehr rassistischer Ort. Es wurde auf einer Grundlage des systemischen Rassismus errichtet, von der Sklaverei über die Segregation bis hin zum institutionellen Rassismus, den wir heute haben.“

Sie sagte, dass sie nicht wisse, was systemischer Rassismus sei, und ich erklärte so gut ich konnte: „Stelle Dir vor, Amerika ist ein Haus mit vielen Stockwerken. Jeder in Amerika wird in dieses Haus hineingeboren, mit dem Ziel, auf das Dach zu gelangen, wo alles großartig ist und die Menschen viel Geld haben und sehr erfolgreich sind. 

Doch viele Menschen schaffen es nicht bis auf das Dach oder nur in die Nähe davon. Die meisten Menschen verbringen ihr Leben damit, ein paar Stockwerke hochzuklettern, um dort die Nachkommen abzusetzen, in der Hoffnung, dass diese es schaffen, höher zu steigen. Das Problem mit systemischem Rassismus ist, dass weiße Familien oft schon ein paar Stockwerke höher geboren werden, während die Kinder der meisten schwarzen Familien im Keller geboren werden. Das Haus der Weißen ist ein gemütliches Haus, in dem es umso einfacher ist zu klettern, je höher man kommt, desto mehr Türen öffnen sich und desto mehr Menschen, die einem auf dem Weg helfen, finden sich. Im Keller hingegen gibt es meistens verschlossene Türen und Labyrinthe, in denen dir niemand zeigt, wo du hergehen musst.

Selbst wenn jetzt alles gleich wäre, was es nicht ist, liegt es erst eine Generation zurück, dass offizielle Gesetze erlassen wurden, die schwarze Menschen nicht für ewig in diesem Keller halten. Dies bedeutet, dass es vererbtes Eigentum und Wohlstand, Zugang zu Hochschulbildung und dem höheren Dienst erst seit einer Generation gibt. Weiße Menschen steigen die Treppen in diesem Haus jedoch schon seit sechs oder sieben Generationen hinauf. Und wenn die ganze Macht von oben ausgeht, wer macht dann wohl die Regeln?“ 

An diesem Punkt verschränkte sie die Arme und sagte: „Ja, nun, was ist dann mit Obama?“ 

Konservative Agenda 

Das war nicht das letzte Mal, dass ich ähnliche Gespräche mit Russen geführt habe. Sie sind wirklich interessiert und haben keine Angst, Fragen zu stellen. Jetzt, da die Diskussion zu diesen Themen zu einer weltweiten Faszination geworden ist, habe ich festgestellt, dass viele Russen zum Thema eine sehr feste Meinung haben. Interessanterweise liest sich der Großteil der Kommentare, die ich erhalten habe, ungefähr so: „Amerika hat keinen Rassismus mehr. Früher, als Schwarze nicht die gleichen Orte wie Weiße aufsuchen durften, war es ein Problem, aber jetzt nicht mehr.“ Das war mir neu. 

Noch heute ist der rassistische Ku-Klux-Klan an vielen Orten in den USA aktiv (eng). Unverhältnismäßige Polizeibrutalität (eng) und offen rassistisches öffentliches Verhalten sind immer noch weit verbreitet. Ganz zu schweigen von der anhaltenden Gewalt gegen Schwarze (bis einschließlich Mord), die regelmäßig durch Handyaufnahmen von Zeugen dokumentiert wird. 

Rassismus in Amerika ist immer nur einen fingerbreit entfernt. Als mir einige Russen erzählten, Amerika sei nicht mehr rassistisch, habe ich gefragt, woher sie diese Information hätten. Mir wurden Links zu YouTube-Videos, Reddit-Posts und konservativen Blogs gesendet. Dann fragte ich, ob sie jemals mit einer amerikanischen schwarzen Person über diese Dinge gesprochen hätten. Das hatte kein einziger. 

Rassismus missverstanden 

Russische Leibeigene

Ich habe mich an einige andere Russen gewandt, die offen Unterstützung für die Black Lives Matter-Bewegung gezeigt haben, um sie zu fragen, warum so viele Russen nichts von der Existenz des amerikanischen Rassismus zu wissen scheinen. Nikita aus Moskau sagte: „Ich denke, der Grund, warum wir (Russen) das nicht sehen ist, dass Rassismus einfach keine Form der Diskriminierung ist, die wir oft mitbekommen. Tatsächlich kann man ein ganzes Leben hier leben, ohne das zu erleben. Viele Menschen kennen keine Schwarzen persönlich und betrachten Rassismus als ein amerikanisches Problem, das seine Wurzeln in der Sklaverei hat. Obwohl viele von uns Großeltern haben, die so etwas wie ‚Schwarze sind Tiere‘ sagen würden, würden wir denken: ‚Sie sind alt und unwissend und ich bin progressiv, ich bin nicht rassistisch.‘ Um Rassismus zu verstehen, müssten die Russen in der Welt umherreisen und Menschen kennenlernen, die unter diesem Problem leiden und mit ihnen sprechen.“ 

Elena aus Sankt Petersburg sagte: „Es gab nie eine solche soziale Ungleichheit hier in Russland. Es gab die Leibeigenschaft, aber sie wurde 1861 vom Zaren abgeschafft. Niemand erinnert sich wirklich daran, was Sklaverei ist. Dann kamen die Sowjetunion und der Sozialismus und alle waren gleich. Aber alle heutigen Probleme haben wenig mit Sklaverei zu tun. Ich denke, das liegt daran, dass wir diese lange sozialistische Vergangenheit hatten, die wirklich alle gleich machte. Es wurden sogar hochrangige Menschen getötet und erschossen. In Russland gibt es die Tendenz, Amerika zu betrachten und davon auszugehen, dass der Rassismus dort das gleiche ist wie eine gewisse Respektlosigkeit der Russen gegenüber Menschen aus Aserbaidschan, Armenien, Georgien usw. Ich denke, ein Drittel der Russen glaubt, dass es in Amerika solche Probleme gibt, ein weiteres Drittel glaubt an Gleichbehandlung und das letzte Drittel schert sich keinen Deut um Rassismus. 

Ich denke, die Leute haben dazu eine Meinung, weil das Mainstream ist und sie werden in den sozialen Medien stark vom Westen beeinflusst. Sie verstehen nicht wirklich, was los ist. Sie wollen nur den Trend mitmachen.“ 

Eine fundierte Meinung bilden 

Es wäre unmöglich, auch nur einen Teil des systemischen Rassismus in einem Artikel zusammenzufassen. Aber die Zeit und Mühe, etwas darüber zu lernen, ist für jeden wichtig, bevor er sich zu einer Meinung bekennt, die eine ganze Rasse von Menschen diskriminiert.  

Jeder meint, er müsse sich zur BLM-Bewegung in den USA eine Meinung bilden und das schnell, durch Reddit-Posts oder YouTube-Videos von konservativen Meinungsbildnern. 

Lange Artikel und Bücher über individuellen und systemischen Rassismus sind kein gutes virales Material. Eine Reihe von Tweets oder nicht kontextbezogenen Videoclips, Dominosteine der Bestätigung der Voreingenommenheit, scheinen alles zu sein, was viele Menschen, nicht nur Russen, für ausreichend halten, um eine Bewegung zu verurteilen und für das Leiden einer großen Gruppe von Menschen blind zu werden.

>>> Rassismus-Protest: Warum die Russen nicht niederknien

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