Ungefähr 100 Menschen tanzen auf dem satten grünen Gras zu den rhythmischen Klängen eines Tambourins. Sie haben viele Zuschauer, die sie mit ihren Smartphones filmen. Der Anführer tanzt in der Mitte. Er ist Schamane, fast zwei Meter groß und hat langes, tiefschwarzes Haar und breite Schultern. Er hat ein Mikrofon und gibt ein Signal. Daraufhin beginnen die in Tracht gekleideten Menschen hin- und herzuwiegen, fast wie eine Welle.
Sie feiern das rituelle Fest Alhalalalai, zu dem sich jedes Jahr alle indigenen Völker des Nordens versammeln. „Ich wäre nicht überrascht, wenn sie Alhalalalai als ihren eigenen Feiertag beanspruchen“, sagt, fast ein wenig eifersüchtig, der Itelmene Oleg Saporozki.
Alle indigenen Völker des russischen Nordens sind genetisch mit amerikanischen Ureinwohnern verwandt. Die Itelmenen sind in Russland wenig bekannt. Wenn es eine Rangliste zum Bekanntheitsgrad gäbe, rangierten die Itelmenen gemeinsam mit den Ainu, einem Volk, dessen Existenz in Russland seit nunmehr 41 Jahren sogar geleugnet wird, ganz unten auf der Liste. Ohne das Fest Alhalalalai wären wohl auch die Itelmenen von allen, außer den Ethnographen, vergessen worden.
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Ein Ereignis bei Alhalalalai ist ein Tanzmarathon: 15 bis 16 Stunden pure Energie und bloß nicht aufgeben. Der letzte Rekord liegt bei 17 Stunden und 5 Minuten Nonstop-Tanz und wurde von Andrei Katawynin („Koritew“) und Darina Etante („Mengo“) aufgestellt.
Ein Volk der Tänzer
Itelmenen bedeutet „hier leben“. Sie gehören zu den indigenen Völkern Kamtschatkas, zogen sich jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - infolge militärischer Zusammenstöße mit Russen und Kosaken – an die Westküste der Halbinsel zurück.
Jetzt leben die Itelmenen vor allem im kleinen Dorf Koiran im Bezirk Tigilski. Um dort hin zu kommen, müssen Sie von Moskau aus achteinhalb Stunden nach Petropawlowsk-Kamtschatski fliegen. Es folgen zehn Stunden holprige Fahrt ins Dorf Esso und dann eineinhalb Stunden Flug mit dem Hubschrauber nach Ust-Chairjusowo und schließlich noch 40 Minuten mit dem Geländewagen durch die Tundra entlang der Küste des Ochotskischen Meeres.
„Bis zu meinem neunten Lebensjahr wohnte ich in Koiran. 1997/1998 lebten dort, soweit ich mich erinnern kann, ungefähr 200 bis 300 Itelmenen. Dann zogen wir in das Dorf Esso, wo meine Verwandten noch immer wohnen. Dort leben etwa 30 Itelmenen“, erzählt Uljana Chaloimowa. Sie selbst ist nach St. Petersburg gezogen, „weil es dort mehr Möglichkeiten gibt und man dort studieren konnte“. Sie arbeitet als Masseurin. In Russlands beliebtestem sozialen Netzwerk, VKontakte, hat die Itelmenen-Gruppe nur 35 Mitglieder, darunter Uljana. Laut der Volkszählung von 2010 gibt es in Russland nur 3.093 Menschen, die sich selbst als Itelmenen bezeichnen.
Zum ersten Mal wurde eine Volkszählung im 17. Jahrhundert durchgeführt und das Volk näher betrachtet. Damals gab es fast 17.000 Itelmenen. Im Winter lebten sie in Jurten. Im Sommer zogen sie näher Richtung Fluss, wo sie in Jurten auf Pfählen lebten.
Der Prozess der Assimilation an die russische Bevölkerung ging schnell vonstatten. Im 18. Jahrhundert lebten viele Itelmenen bereits in Hütten, im 19. konvertierten sie zum Christentum und erhielten russische Nachnamen, die auf den Namen von Priestern und Kirchenoberen in ihren Gemeinden basierten. Ihre traditionelle Lebensweise, die sich um die Fischerei dreht, existiert bis heute, obwohl nur noch sehr wenige Menschen daran festhalten.
Hundehalter
„Es gab immer viel zu tun. Wir mussten uns um die Hunde kümmern und verbrachten die Sommerferien damit, ihr Futter vorzubereiten. Alle hielten Hunde. Wer keinen Hundeschlitten in seinem Garten hatte, galt als frivoler Mensch“, erinnert sich Oleg Saporozki.
Als er älter wurde, wuchs auch die Liste der Aufgaben. Am Wochenende ging Oleg in den Wald, um Brennholz zu suchen, das er, wenn nicht gerade ein Schneesturm tobte, mit dem Hundeschlitten nach Hause transportierte. Als Flugzeuge im Nachbardorf Ust-Chairjusowo landeten, holte er dort die Passagiere ab.
Uljana sagt, dass sich die Itelmenen selbst in Kamtschatka, in ihrer angestammten Heimat, irgendwann nicht mehr zu Hause fühlten: „Es war nach dem Umzug nach Esso. Die Ewenen, die dort die Bevölkerungsmehrheit stellen, waren nicht sehr freundlich. In der Schlange im Supermarkt, ich war gerade 12 oder 13 Jahre alt, hörte ich einmal jemanden sagen: ‚Es gibt viel zu viele dieser Neuankömmlinge hier‘.“
Wurzeln
Irgendwann verloren die Itelmenen die Verbindung zu ihren Wurzeln. 1989 bezeichneten nur etwa 20 Prozent von ihnen Itelmenisch noch als ihre Muttersprache. Wer diese Sprache noch beherrschte, war meist schon über 50.
Uljanas Familie hatte eine unmittelbare Verbindung zu der Sprache. Ihre Großmutter Klaudia Chaloimowa war Sprachwissenschaftlerin und hat in den 1980er Jahren ein Lehrbuch für Itelmenisch verfasst. Doch auch in ihrer Familie sprach man vor allem Russisch. Nur gelegentlich wurden einige itelmenische Worte verwendet.
Uljana selbst kennt niemanden, der Itelmenisch spricht oder zumindest das Alphabet kennt.
Es muss dieser kulturelle Niedergang in Verbindung mit dem Bevölkerungsrückgang gewesen sein, der die Itelmenen dazu veranlasst hat, die Verantwortung für ihr eigenes Überleben zu übernehmen.
Es gab wenig Hilfe vom Staat. 1989 gehörten die Itelmenen zu den ersten indigenen Völkern im Land, die eine eigene öffentliche Organisation gründeten - den Tchsanom-Rat zur Wiederbelebung der Itelmenen von Kamtschatka unter der Leitung von Oleg Saporozki. Sie gründeten eine Tanzgruppe, die schnell populär wurde und durch Europa tourte.
Das Alhalalalai-Fest findet nun am Fuße eines schlafenden Vulkans statt und ist zu einem Merkmal des Nordens und der itelmenischen Identität geworden. „Ich denke, das ist unser Hauptverdienst“, sagt Saporozki.