Großzügige Finanzspritze: Wie Russland die klassische Ehe fördert

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Gemessen an den vielfältigen Unterstützungsleistungen für Familien mit Kindern, könnte Russland das globale Zentrum von Eheschließung und Geburten sein. Aber so einfach ist es nicht.

Laut einer Studie (rus) des russischen Meinungsforschungsinstituts Lewada Zentrum aus dem Jahr 2018 ziehen 47 Prozent der Russen es vor, unverheiratet zusammenzuleben. Der russische Staat versucht jedoch durch verschiedene Initiativen, die klassische Ehe zu fördern. Unter anderem garantieren die im Jahr 2020 eingeführten Änderungen in der russischen Verfassung den Schutz von „Familie, Mutterschaft, Vaterschaft und Kindheit“ und „der Institution der Ehe als Vereinigung von Mann und Frau“.

Alles für die Kinder 

Der Staat unterstützt junge russische Familien mit Geld. Anfang der 2000er Jahre startete Russland ein staatliches Programm, mit dem junge Familien Subventionen für den Kauf von Wohnraum erhalten können. Das Programm läuft bis 2025 und steht Ehepaaren unter 35 Jahren offen, die ein regelmäßiges Einkommen beziehen, aber noch kein Eigentum haben. Der Staat verpflichtet sich, 30 bis 35 Prozent des Wertes einer Immobilie zu zahlen, die mit Eigenkapital oder einem Darlehen finanziert werden.  

Darüber hinaus können beide Ehepartner für den Kaufpreis einer Immobilie oder auf eine Hypothek geleistete Zinszahlungen eine Einkommensteuerrückerstattung erhalten. Damit können sie bis zu 13 Prozent von ihrem Einkommen zurückbekommen. Der Betrag, für den eine Steuerrückerstattung beantragt werden kann, ist auf maximal zwei Millionen Rubel (etwa 22.700 Euro) begrenzt. Jeder Ehepartner kann so bis zu 260.000 Rubel (etwa 2.900 Euro) erstattet bekommen. 

Bei der Geburt eines Kindes hat eine Familie Anspruch auf gleich zwei Geldleistungen: eine einmalige staatliche Zulage (im Jahr 2020 beträgt sie etwa 18.000 Rubel - dies entspricht etwa 204 Euro - und der Betrag variiert je nach Region) und auf das sogenannte Mutterschafts- oder Familiengeld. Im Jahr 2020 sind das für die Geburt des ersten Kindes 466.600 Rubel (etwa 5.300 Euro), für das zweite Kind sind 616.600 (etwa 7.000 Euro) und für das dritte Kind 450.000 Rubel (etwa 5.100 Euro). Das Geld wird nicht ausgezahlt, sondern kann beim Kauf einer Immobilie, zur Begleichung einer Hypothek oder für die Finanzierung der Ausbildung der Kinder abgerufen werden. 

Schwangere und Mütter von Kindern unter drei Jahren haben Anspruch auf kostenlose Medikamente und Milchprodukte. Familien mit niedrigem Einkommen können einen monatlichen Kinderbetreuungszuschuss für Kinder unter sieben Jahren beantragen.

Familien mit drei und mehr Kindern haben Anspruch auf finanziellen Ausgleich beim Kauf von Schuluniformen, können kostenlos parken und einiges mehr. Junge Eltern mit Kindern werden bei der Bewerbung für einen Studienplatz bevorzugt. Die Noten müssen dennoch stimmen. Die Geburtsurkunde der Kinder muss bei der Bewerbung vorgelegt werden. Kinder im Vorschulalter, deren Eltern studieren oder die in der Armee dienen, bekommen einen garantierten Kindergartenplatz, dürfen kostenlos öffentliche Verkehrsmittel nutzen und haben freien Eintritt in Museen.  

Bürokratische Hürden 

Laut der 33-jährigen Nadeschda Nadeschina, Mutter von drei Kindern aus der Stadt Ljuberzy, unternimmt der Staat alles, um die Menschen zu ermutigen, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Bei der Beantragung von Leistungen sind die Familien jedoch immer noch mit zu viel Bürokratie konfrontiert.

„Aufgrund von fehlerhaften Dokumenten wurden uns zweimal Leistungen verweigert. Es ist auch eine Schande, dass das Mutterschaftsgeld für das dritte Kind nur für eine Hypothek ausgegeben werden kann. Wir wollen keine Hypothek aufnehmen. Es wäre besser, wenn sie die Kosten für Lerngruppen und Bücher erstatten würden“, sagt Nadeschina.  

Auch Julia Utschajewa, eine 29-jährige Hausfrau und Mutter von drei Kindern aus Wladimir, hatte Probleme bei der Beantragung von Leistungen.

„Wir haben drei Monate auf das Mutterschaftsgeld für unser drittes Kind gewartet. Außerdem haben sie uns unsere Anträge wegen kleinerer Fehler zurückgeschickt. Und wir haben kein Kinderbetreuungsgeld erhalten, weil wir unser Auto verkauft und ein neues gekauft haben. Der Staat hat das Geld aus dem Verkauf als Einkommen gewertet und so lagen wir über der Grenze und haben nichts bekommen“, beschwert sie sich. 

Der Kauf von Wohnraum im Rahmen des Programms für junge Familien verläuft ebenfalls nicht immer reibungslos. Viele Familien berichten (rus) in Internetforen, dass man Jahre auf einer Warteliste stehen kann und selbst dann kann man noch leer ausgehen, etwa, wenn einer der Ehepartner in dieser Zeit 36 Jahre alt wird oder wenn eine Familie, die das lange Warten leid war, inzwischen eine Wohnung aus eigenen Mitteln gekauft hat.

Der weltweite Bevölkerungsrückgang und seine Ursachen 

Trotz aller Vorteile und Zulagen ist die Zahl der Eheschließungen in Russland in den letzten 30 Jahren stark rückläufig, während die Zahl der Scheidungen steigt. 

Nach Angaben der Föderalen Statistikbehörde Rosstat ging die Zahl der eingetragenen Ehen zwischen 1990 und 2019 um 26,9 Prozent zurück - von 1,3 Millionen im Jahr 1990 auf 950.000 im Jahr 2019.

Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Scheidungen um 10,8 Prozent - von 559.900 im Jahr 1990 auf 620.700 im Jahr 2019.

Die Geburtenrate sank im gleichen Vergleichszeitraum um 25,2 Prozent - von 1,98 Millionen auf 1,48 Millionen Kinder.

Einer der Hauptgründe für die Verschlechterung der demografischen Situation in Russland war der drastische Rückgang der Geburtenrate in den neunziger Jahren, sagt Karina Pipia, Soziologin am Lewada Zentrum. 

„Die nicht so zahlreiche Generation, die in den neunziger Jahren geboren wurde, hat bereits das reproduktive Alter erreicht. Sie sind nur wenige und die ausländischen Migranten, die nach Russland kommen, können diese negative Dynamik nicht kompensieren. Zum Beispiel machten 2018 Kinder, die in Familien hineingeboren wurden, in denen mindestens eines der Elternteile Ausländer ist, nur vier Prozent aller Geburten im Land aus“, weiß Pipia. 

Ein weiterer Grund ist, dass Männer heute Angst haben, Verantwortung für eine Frau und eine Familie zu übernehmen, und Frauen reagieren unbewusst darauf, indem sie sich entscheiden, keine Kinder zu bekommen, vermutet die Soziologin und Psychologin Jelena Suworowa. 

Die russische Ombudsfrau für Kinderrechte, Anna Kusnezowa, führt die steigende Zahl von Scheidungen auf frühe sexuelle Aktivitäten zurück. „Laut Statistik werden die ersten sexuellen Erfahrungen heute viel früher gemacht. Ehe und Kinderkriegen werden dagegen auf einen späteren Zeitpunkt im Leben verschoben. Mit anderen Worten: körperlich ist man früher reif, als sozial“, so Kusnezowa (rus) im Juli 2020. 

Russen treten durchschnittlich im Alter von 14 bis 15 Jahren in die Pubertät ein, während das Durchschnittsalter, in dem sie heiraten und ihr erstes Kind bekommen, bei 29 bis 32 Jahren liegt. Die Hauptaufgabe des Staates sei es, die Kluft dazwischen zu minimieren, meint die Ombudsfrau.

Laut dem WZIOM-Meinungsforschungsinstitut (rus) sind die Hauptgründe für eine Scheidung Armut und Untreue. Die 24-jährige Jekaterina glaubt, dass immer weniger Menschen heiraten, weil die Regierung sich nur für die Statistik und nicht für das Familienglück interessiere.

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