Niemand hat je gezählt, wie viele Anglizismen es im Russischen gibt, aber der durchschnittliche Russe sieht sich täglich mit ihnen konfrontiert: Russische Bekleidungsmarken, Cafés und Restaurants geben ihren Geschäften englische Namen; in normalen Büros werden zunehmend Wörter wie пофиксить (reparieren, von fix) und ресёрч (resjortsch, engl.: research) verwendet; im Internet ist fast jedes Wort ein Anglizismus: messenger, follower, likes und viele andere. Darüber hinaus tauchen jedes Jahr neue Anglizismen auf, die schnell in die Alltagssprache einfließen. Und wie versucht man, in Russland dagegen anzugehen?
„Als ich zur Schule ging, hatte ich ein Erklärendes Wörterbuchvon Dahl. Beim Lesen der Artikel darin fiel mir auf, dass russische Synonyme es ermöglichen, die Bedeutung sprachlicher Entlehnungen besser und schneller zu verstehen. So übersetzte ich fast jedes neue Lehnwort, das ich hörte, was es mir ermöglichte, neue Informationen, die viele verschiedene wissenschaftliche Begriffe enthielten, schneller aufzunehmen. Auch Anglizismen waren von diesem Hobby betroffen“, erinnert sich Leonid Marschow, 27, einer der Aktivisten der InternetgruppeЧисторечие(Reine Sprache), die gegen Anglizismen und anderen Lehnwörter in der russischen Sprache kämpft.
Seiner Meinung nach sind die Wörter распродажа (Ausverkauf) und отклонение (Abweichung) für einen Russen viel verständlicher und klarer als ihre englischen Entsprechungen sale und deviation. Solche Lehnwörter seien für die Russen nur Worthülsen, ist sich Marschow sicher.
2015 fand Marschow im russischen sozialen Netzwerk VKontakte die Internetgruppe Родноречие (Rodnoretschije), in etwa Heimatsprache (mit 8.000 Abonnenten), die russischsprachigen Ersatz für Wörter, die aus dem Englischen und anderen Fremdsprachen entlehnte wurden. Er begann, in die Gruppe zu posten und wurde schnell zu einem der Administratoren. 2018 übernahm er die Verwaltung einer weiteren Gruppe – der Reinen Sprache (mit 2.300 Abonnenten), deren Mitglieder sich für den Kampf gegen Anglizismen engagieren.
In der Internetgruppe werden Anglizismen meist durch „ur-russische“ Wörtern ersetzt. Manchmal schlagen die Administratoren vor, dass die Gruppenmitglieder ihre eigenen Synonyme bilden und in die Kommentare stellen. Zum Beispiel:
такси (taksí, dt.: Taxi) –> пролётка (proljótka, dt.: Mietsdroschke)
ноунейм (nounejm, engl.: noname) –> беспрозванец (besproswánjez, dt.: Namenloser)
Интернет (Internet, engl.: Internet) –> междусетье (mjeschdusétje, wörtliche Übersetzung des englischen Begriffs)
митинг (miting, engl.: Meeting) –> сходка(s’chodka, dt.: Zusammenkunft)
спикер (spiker, engl.: speaker, dt.: Sprecher, Parlamentspräsident) –> гласник(glasnik, von гласить, dt.: erzählenrufen)
Die Administratoren der Internetgruppe fordern auch die aktive Verwendung russischer Analoga in der Alltagssprache, die Schreibung aller englischen Wörter wie Youtube und Google in kyrillischen Buchstaben und ein Verbot der Verwendung von Anglizismen in Massenmedien. Zudem verlangen sie, dass russische Unternehmen keine ausländische Namen tragen dürfen.
„Wenn man so viele Anglizismen sieht, wird einem klar, dass Russisch durch Englisch ersetzt wird. Lehnwörter sind ein natürliches Phänomen für jede Sprache, aber wenn mehr Wörter entlehnt werden als die Wörter in der eigenen Sprache gebildet werden, verliert die Sprache ihre Identität“, argumentiert Marschow.
Michail Archarow, ein 21-jähriger Student der Staatlichen Technischen Universität Moskau „N. E. Bauman“, hat in der Schule kein Englisch gelernt, so dass jeder neue Anglizismus für ihn zu einem „feindseligen“ Wort wird. „Ich begann, das Auftreten von Anglizismen in den Medien und in verwandten Bereichen zu bemerken: фэйк (Fake), перформанс (Performance), хайп (Hype), хэндмэйд (handmade), клининг (cleaning). Das hat meine Sichtweise bestätigt, denn neue russische Wörter existieren einfach nicht“, erklärt Archarow.
Die meisten Mitglieder der beiden Gruppen in VKontakte versuchen, in der Alltagssprache keine Anglizismen zu verwenden, und wenn sie sich selbst bei einem Fehler ertappen, greifen sie zum Wörterbuch und die Internetgemeinde sucht nach einem Ersatz für den Anglizismus oder erfindet ihre eigenes Wort. Allerdings verstehen ihre Mitbürger den Ersatz für den entsprechenden Anglizismus nicht, sondern fragen bei sehr ausgefallenen Varianten nach der Bedeutung des russischen Synonyms.
Eines der Mitglieder der Reinen Sprache, der 37-jährige Ingenieur Gennadi Urjadow, will dagegen keine vollständige Tilgung von Anglizismen. Seine Abneigung gegen neue Lehnwörter entstand, weil seine eigenen Kinder begannen, sie zu oft zu verwenden. „Ich muss einräumen, dass ich nicht gegen Lehnwörter bin – ich bin kein Fanatiker. Es ist einfach nur schwer, mir [englische] Wörter zu merken, die ich nicht verstehe, weil ich Deutsch gelernt habe. Die Wörter шэрить (scheritj, vom engl. share, dt.: teilen) und кейс (kejs, engl. case, dt.: Aktenkoffer) sind für mich schwer verdaulich. Aber ich mag zum Beispiel das Wort хайп (Hype). Wenn sich jedoch ein würdiges russisches Synonym dafür findet, werde ich mich freuen“, sagte Urjadow.
Von Zeit zu Zeit treten gegen die Verwendung von Anglizismen auch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auf. So kritisierte der Vorsitzende der Staatsduma Wjatscheslaw Wolodin im November 2019 bei einem Besuch in Saratow Werbetafeln. „So kann das Land verloren gehen, ... Hier, sehen Sie – чикен макнаггетс (tschiken maknaggets, engl.: Chicken McNuggets). Da bricht man sich ja die Zunge!“ - lenkte der Sprecher des Parlaments die Aufmerksamkeit auf eine der Werbetafeln.
Im Oktober 2019 kritisierte der damalige Premierminister Dmitri Medwedew die Verwendung von Anglizismen durch Regierungsmitglieder mit den Worten, dass „es sich nicht lohnt, die Sprache mit unnötigen Worten zu vermüllen“. Und im März 2019 twitterte der Vorsitzende der Kommission für Informationspolitik des Föderationsrats, Alexej Puschkow, eine Liste von Anglizismen, die seiner Meinung nach die russische Sprache in einen „hässlichen Mutanten“ verwandelten. Dazu gehörten коучинг (koutsching, engl.: coaching) und тимбилдинг (timbilding, engl.: tеam building).
Der russische Linguist und Videoblogger Nikita Safronow, bekannt unter dem Pseudonym MikitkoSyn Alexejew, argumentiert, dass es keinen Sinn habe, einen „russischeren“ Ersatz für Anglizismen zu suchen oder zu erfinden, da dieser durch alten Kontext und andere Assoziationen stören würden.
„Die jahrhundertelange Praxis zeigt, dass das bei uns einfach nicht funktioniert. Na, vielleicht verbleiben von 1000 solchen Wörtern 1 – 2 in der Sprache, und das auch nur in besonderen Fällen, wenn, sagen wir, eine sehr berühmte Person beginnt, ein neues Wort in einem bestimmten Kontext zu verwenden“, erklärt Alexejew.
Seiner Meinung nach ist jedes Lehnwort, das ein neues oder bisher irrelevantes Phänomen oder Ding bezeichnet, sei es мессенджер (Messenger), андроид (Android), эмодзи (Emoji) oder бан (Ban), für die russische Sprache geeignet.
Lehnwörter und Anglizismen veränderten zwar die Mentalität eines Menschen, aber auf positive Weise, da sie zur Globalisierung des Bewusstseins beitragen, versichert Dmitri Petrow, Dozent an der Linguistischen Universität Moskau. Und ihr Gebrauch, vorausgesetzt, dass die eigene Muttersprache als Grundlage erhalten bleibt, ermögliche es durchaus, die russische Sprache zu bereichern, meint der Lehrer.
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