Heute leben in Russland etwa 400.000 Deutschstämmige, die meisten davon in Sibirien und im Ural (Altai und Omsk). In den Regionen Tjumen, Tscheljabinsk und Kemerowo sowie in der Region Krasnodar leben jeweils etwa 20.000 Menschen und einige Tausend in Städten der Wolga-Region.
In diesen Orten werden deutsche und russische Dialekte gesprochen und unterschiedliche Bräuche gepflegt. Wir haben die Bewohner dieser Gebiete gefragt, wie es ihnen gelingt, die Traditionen ihrer Vorfahren zu bewahren.
Freundschaft zwischen den Kulturen
Marina Tarassowa (geborene Nuss) zog nach der Auflösung der UdSSR 1991 aus Kasachstan in die Region Omsk. Sie lebte zunächst im deutschen Dorf Nowoskatowka. Vor drei Jahren zog sie nach Asowo. Heute leitet sie das Regionalstudienmuseum der Region und widmet sich der Erforschung der Kultur der deutschen Bevölkerung, indem sie verschiedene alte Alltagsgegenstände und Fotos zusammenträgt.
Asowo ist das größte „deutsche“ Dorf in Sibirien. Es wurde 1909 mit dem Ziel gegründet, Deutsche aus der Region Malorossija anzusiedeln, denen Land versprochen wurde. „Das Dorf Alexandrowka war 1893 das erste, gefolgt von Priwalnoje, dann Sosnowka und Nowinka (mit einigen traditionellen deutschen Häusern). 1904 begann dann der große Zustrom von Deutschen“, so Tarassowa.
Insgesamt hat das 1992 gegründete Asowsche Gebiet 25.000 Einwohner, die Dutzenden von Nationalitäten angehören - unter anderem Russen, Ukrainer, Esten, Kasachen, Mordwinier und Usbeken. Die Hälfte von ihnen hat jedoch deutsche Wurzeln. „Als das Gebiet gerade erst gegründet wurde, warteten viele ‚russische Deutsche‘ auf ihre Umsiedelung“, erläutert Marina Tarassowa. „Deutschland war dabei ebenfalls sehr engagiert und schickte Eisenbahnwaggons als vorübergehende Behausungen. Heute bauen die Familien eigene Häuser.“
Die Bewohner lernen Deutsch im Kindergarten. Erwachsene können die Sprache auch in lokalen Kulturzentren lernen. Davon gibt es in der Region 18, eines in nahezu jeder Siedlung.
Asowo feiert kulturelle Feste mit einer Mischung aus russischen und deutschen Bräuchen: Für viele Familien ist Weihnachten am 25. Dezember, für andere am 7. Januar. Ostern wird nach dem katholischen Kalender gefeiert, aber mit dem russischen „Kulitsch“-Brot und bemalten Eiern nach orthodoxer Tradition. Darüber hinaus halten einige Familien weiterhin an dem alten Brauch fest, Stickereien mit Bibelversen aufzuhängen.
Ein Dorf für schwierige Heranwachsende
Die Siedlungen haben eigene Brauereien, Bäckereien und Fleischverpackungsbetriebe. Marina Tarassowa organisiert seit einiger Zeit gastronomische Touren in der Region. „Wir empfangen Touristen nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus China, Kanada, Belgien und Israel“, erklärt sie.
Darüber hinaus finden sich Gotteshäuser verschiedener Glaubensrichtungen. Die meisten Menschen dort sind Lutheraner, aber auch Katholiken, Protestanten und orthodoxe Christen gibt es. „Im Rajon Issikul in der Oblast Omsk liegen die Dörfer Solnzewka und Appolonowka, in denen Mennoniten leben. Sie leben ganz anders. Zum Beispiel bauen alle Bewohner eines Dorfes gemeinsam ein Gebäude, um das Ende des Schuljahres zu feiern“, erzählt Tarassowa.
Wie andere Russlanddeutsche könnte auch sie nach Deutschland. Aber sie möchte nicht umziehen. „Ich besuche meine Verwandten dort immer gerne, aber ich möchte hier arbeiten. Ich bin ein geselliger Mensch, ich sehne mich immer nach einer aktiven Rolle in der Gemeindearbeit und das würde ich vermissen, wenn ich nach Deutschland ziehen würde.“
Deutsche aus Deutschland sind häufige Besucher in Sibirien: Neben Familienbesuchen gibt es kulturelle Austauschveranstaltungen sowie ein Programm zur Umerziehung problematischer Jugendlicher. Für viele von ihnen sind diese Programme die einzige Möglichkeit, das Gefängnis zu umgehen. Sie kommen daher mehr oder weniger freiwillig nach Sibirien. Nach Berichten deutscher Medien schaffen 80 Prozent dieser Jugendlichen die Rückkehr in ein geregeltes Leben.
Eine „Halbstadt“ inmitten der Steppe
Das mehrheitlich deutsche Gebiet in der Region Altai, in der benachbarten Region Omsk, wurde 1927 gegründet und 1938 aufgelöst - bevor es 1991 erneut wieder gegründet wurde. Das Gebiet umfasst 16 Dörfer mit insgesamt nur 16.000 Einwohnern.
Touristen wissen, dass sie in den deutschen Gegenden angekommen sind, wenn sie von einem großen Banner auf Deutsch und Russisch begrüßt werden. Jedes Dorf hat ein eigenes Krankenhaus, Schulen, Sportplätze und Kulturzentren. Alle Schilder und offiziellen Bezeichnungen sind in beiden Sprachen.
Die deutschen Dörfer des Altai sind geprägt von breiten asphaltierten Straßen, niedrigen Hecken anstelle von Zäunen und stabilen Backsteinhäusern, die in abgegrenzten Bereichen liegen. „Ein Haus gleicht dem anderen. Jedes hat einen gepflegten eigenen Garten“, sagt Wladimir Michailowski aus dem Dorf Grischkowka, der vor einigen Jahren aus Kasachstan hierhergezogen ist. Wladimir unterrichtet Chemie und Biologie an der örtlichen Schule. Er sagt, er versuche, an den Traditionen seiner Eltern festzuhalten. „Jede Veranstaltung in unserem Dorf enthält einige Elemente der deutschen Kultur, zum Beispiel Gesang und Tanz.“
Die meisten Bewohner leben von der Landwirtschaft. Diese Gebiete werden auch als „Sibirisches Tschernosemje“ („Schwarze Erde“, eine Region in Zentralrussland) bezeichnet. Dort liegt auch der Deutsche Nationalrajon mit seinem Zentrum Halbstadt, einer 1908 gegründeten Siedlung mit heute 1.700 Einwohnern. Als Deutsche identifizieren sich etwa ein Drittel der Bewohner.
Das wichtigste lokale Unternehmen ist die 1995 mit Hilfe der Bundesregierung gegründete Firma Brücke. Sie produziert Wurstwaren nach klassischen deutschen Traditionen und Technologien mit natürlichen Zutaten aus der Region. So kommen Bewohner anderer Gebiete häufig auf kulinarischen Reisen hierher. Der Direktor der Fabrik, Peter Boss, ist stolz (rus) auf die Qualität. „Deutsche Gründlichkeit trifft hier auf russische Vielfalt“, sagt er. Das Unternehmen bietet mehr als 250 Menschen Arbeit.