„Ich muss mein TikTok aufnehmen, aber dazu müssen Sie sich auf den Boden legen... Wer bereit ist, hebt die Hand“, sagt der 19-jährige Milochin in rosa Hemd und Adidas-Basecap mitten auf einer Tagung des St. Petersburg International Economic Forum (SPIEF). Es ist das wichtigste Wirtschaftsforum des Landes – hier tritt der russische Präsident auf und eine Eintrittskarte kostete in diesem Jahr fast eine Million Rubel (11.500 Euro).
Alle heben die Hände, darunter der Marketingdirektor der Sberbank, der größten Bank des Landes, der Vizepräsident von Aliexpress in Russland und ein ehemaliger Präsidentschaftskandidat. In wenigen Sekunden liegen die Teilnehmer in Jacketts und Hemden auf dem Boden des Konferenzraums, einige lassen sogar die Beine auf Stühlen baumeln. Milochin legt sich auf den Tisch. Dutzende von Kameras filmen die für solch eine Veranstaltung hanebüchene Aktion.
Milochin ist einer der beliebtesten TikToker Russlands: 12,9 Millionen Nutzer verfolgen sein Leben in diesem sozialen Netzwerk. Laut Forbes verdient er 2 Millionen Rubel (23.000 €) pro Monat. Im vergangenen Jahr verlieh ihm GQ die Auszeichnung Entdeckung des Jahres. Auf seinem Account veröffentlicht er Videos mit Tänzen, eigenen Songs, Witzen und Challenges – je extravaganter, desto besser. Auf demselben Wirtschaftsforum verkündete er nach dem Ende der Diskussion und der Aufnahme des Clips vor den laufenden Kameras der Journalisten: „Ich muss mal pinkeln“. Ein Teil der Öffentlichkeit war empört über die bloße Tatsache seines Auftritts bei einer solchen Veranstaltung: „Was ist das für eine Art von Surrealismus?“; „Der Junge ist nicht durch seine Arbeit berühmt geworden, sondern durch seine trashige Popularität in den sozialen Netzwerken.“
Vor nicht allzu langer Zeit hätte sich nicht einmal Milochin selbst eine solche Beliebtheit vorstellen können. Vor zwei Jahren arbeitete er als Kellner im Süden Russlands, in Anapa, klaute „aus Spaß“ in Geschäften und steckte sein ganze Geld in Drogen.
Danja Milochin lebte von seinem fünften bis 13. Lebensjahr in Orenburg, in einem Waisenhaus, in das er und sein Bruder Ilja von ihrer Mutter abgegeben wurden, nachdem sie sich von ihrem Mann wegen dessen Drogensucht scheiden lassen hatte und erkannte, dass sie ihre Kinder nicht allein ernähren konnte. An diese zehn Jahre erinnert er sich nur ungern. Zu den schmerzhaften Erinnerungen gehören Schläge und die streng reglementierten Mahlzeiten. „In den ersten Tagen, als ich aus dem Waisenhaus geholt wurde, war es völlig ungewohnt für mich, dass ich nicht verprügelt wurde, weil ich eine Fünf bekommen hatte. Jeder wurde dort geschlagen, das war dort die Erziehungsmethode. Sie schlugen uns ins Gesicht, ohrfeigten uns. Der Lehrer konnte einen Stock verwenden oder ein Springseil und zweimal schlagen, damit es nicht so auffiel“, erinnert sich Danja in einem Interview auf dem YouTube-Kanal Puschka.
Blogger Daniil Milokhin, Gewinner der Nominierung Entdeckung des Jahres, bei der Preisverleihung GQ Person des Jahres - 2020 im Maxim Gorki Moskauer Kunstakademie-Theater.
Jekaterina Tschesnokowa/SputnikDie Milochin-Brüder wurden von der Unternehmerfamilie Dmitrij und Jelena Tjulenjew aufgenommen. Die Familie hatte bereits fünf eigene Kinder. Ein Jahr später zogen alle zusammen nach Anapa. Aber auch in der neuen Familie lief es nicht viel besser – Danja war ein „schwieriger Teenager“: Er weigerte sich zu lernen, begann zu trinken und zu rauchen, verbrachte die Nächte nicht zu Hause. Die Polizei kam in regelmäßigen Abständen zu den Tjulenjews. Der Hauptgrund für die Konflikte war Danjas mangelnde Bereitschaft zu lernen.
„Ich wollte nichts anderes, als mit dem Internet Geld zu verdienen. Sie haben es mir verboten. Und ich wollte nicht zur Schule gehen, es hat irgendwie nicht gelegen“, erinnert sich Danja. Als Kompromiss begann er eine Ausbildung als Automechaniker an einer Betriebsfachschule und zog in ein Studentenwohnheim. Fern von seinen Erziehungsberechtigten begann er, zum Spaß Schokolade, Kaugummi und andere Kleinigkeiten aus Supermärkten zu stehlen, und wenn er erwischt wurde, log er, dass er nichts zu essen habe. Sich aus dem Fleisch und den Graupen, die ihm sein Vormund schickte, Essen zu kochen, war er zu faul.
Mit 16 fing er an, Drogen zu nehmen und erzählte allen, dass er eines Tages Blogger werden würde. Er legte eine Seite auf VKontakte an und begann, alles Mögliche zu posten: Fotos aus dem Supermarkt, auf denen er in einem mit Instantnudeln beladenen Einkaufswagen sitzt, Selfies mit nacktem Oberkörper. Er ließ sich tätowieren, färbte sich die Haare blond und begann, mit seinem Aussehen zu protzen. Im Alter von 17 Jahren hatte er bereits 2.000 Follower gewonnen und entdeckte für sich Instagram, wo er „anfing, Leute zu betrügen: Werbeanzeigen zu verkaufen und sie nicht anzufertigen, und [mit dem Erlös] verbotenes Zeug zu kaufen“, gestand er. Später, in einem Interview, antwortete er auf die Frage: „Du hast also Leute nur betrogen, um cool abzuhängen?“ – „Ja, genauso war es.“
Blogger Daniil Milochin (v.l) und Sänger Nikolai Baskow während der Dreharbeiten zum Neujahrs-Blaulicht-Programm auf dem TV-Kanal Russland 1.
SputnikZusätzlich zu seinen Aktivitäten in den sozialen Medien verkaufte Milochin Luftballons, verteilte Flyer, blieb aber nirgendwo lange, weil es ihn „langweilte“. Im Sommer 2019 verschaffte ihm Dmitrij Tjulenjew seinen ersten ernsthaften Job – als Kellner in einem Café. Doch nach zwei Monaten provozierte Danja bewusst die Entlassung. Er wollte mehr Zeit mit seinen Freunden verbringen. Daraufhin begann er, auf TikTok aktiv zu werden und „alles, was ihm in den Sinn kam“ zu posten. Das Publikum reagierte positiv auf seine Clips: Er zog Grimassen in die Kamera, trollte andere TikToker, sang zu Backing Tracks mit.
„Mein Stiefvater hat mir einen Ratschlag gegebenen: Denke materiell! Daran habe ich mich gehalten. Und ich fing an, jeden Abend auf einen Zettel zu schreiben: ,Ich bin der beliebteste Junge der Welt, ich bin der Hübscheste, ich bin angenehm im Gespräch, ich habe viele Freundeʻ“, sagt Danja. Er hatte den Traum, nach Moskau zu ziehen. Sobald er volljährig wurde, erhielt er 200.000 Rubel (2.300 €) vom Staat – Geld, mit dem er sich ein neues Telefon und ein Ticket nach Moskau kaufte. Aber er brach jeden Kontakt zu seiner Familie ab, auch zu seinem Bruder Ilja.
„Ich setzte alles auf eine Karte: Entweder es würde funktionieren oder es hatte keinen Sinn zu leben“, erinnert sich Milochin heute über den Umzug. Und er hatte Erfolg – dem Publikum gefiel seine Art. Im Dezember 2019 hatte er bereits 700.000 Follower auf TikTok und 150.000 auf Instagram. Ein freimütiges Video-Interview, in dem er über seine schwierige Kindheit sprach, das von mehr als 6 Millionen Menschen gesehen wurde, sowie das Flirten mit seiner Bisexualität (Danja sagt, er sei heterosexuell, aber Gerüchte über angeblich bestehende Beziehungen mit jungen Männern lenkt die Aufmerksamkeit auf ihn) trugen zu seiner Popularität bei. „Du bist mein Schwarm“, schrieben ihm Teenager, sowohl Mädchen als auch Jungen, in den Kommentaren.
Da schlug Jaroslaw Andrejew, der Gründer von WildJam, einer Werbeagentur, die sich auf die Zusammenarbeit mit Bloggern spezialisiert hat, ein Treffen mit Milochin vor. Er wurde in das erste TikToker-Haus in Russland, das Dreamhouse, eingeladen – eine Variante des amerikanischen Projekts Hype House: Mehrere TikToker leben zusammen und drehen Content für ihre eigenen Accounts und den Account des „Hauses“, was zu einem Austausch von Publikum zwischen den Bloggern und einer Zunahme der Zahl der Follower führt. Danja und ein weiterer Partner übernahmen die Rekrutierung der Hausbewohner und den kreativen Teil. Zunächst, so gab Andrejew zu, stellte er sich darauf ein, dass das Projekt ein Jahr lang rote Zahlen schreiben würde, aber schon nach sechs Monaten begann das TikTok-Haus Gewinn abzuwerfen.
Im Jahr 2020, während der Quarantäne, hatte Milochin die Idee, einen humorvollen Track zu schreiben, Я дома (Ich bin Zuhause): Die Zeilen Rate mal, wo ich bin! Ich bin Zuhause bezogen sich auf die Lockdown-Maßnahmen. Die TikToker schrieben den Song an einem Tag, und der kurze Ausschnitt ging viral – Nutzer nahmen 1,3 Millionen Videos dazu in TikTok auf. Milochin ging noch weiter und veröffentlichte ein Musikvideo, das derzeit mehr als 28 Millionen Aufrufe auf YouTube verzeichnet.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Milochin nach eigener Aussage bereits mit den Drogen aufgehört: „Ich hatte eine Überdosis. Danach konnte ich nicht mehr richtig schlafen, in meinem Kopf hörte ich so ein Mmmmm-Geräusch. Das hat mich wirklich umgehauen. Das hat mir Angst gemacht.“
„Dir ist doch klar, dass mit einem Ruf als Junkie-Boy die großen Marken nicht zu dir kommen werden“, wurde er im gleichen Interview auf dem YouTube-Kanal Puschka gefragt. „Wenn sie nicht wollen – nun gut. Die zweite Liga vielleicht nicht, aber die dritte schon“, antwortete er und es zeigte sich bald darauf, dass er Recht behalten sollte. Nach dem musikalischen Hit meldeten sich große Werbekunden bei ihm, darunter PepsiCo, Honor, Huawei und andere große Marken. Die Sberbank machte ihn zu einem ihrer Gesichter.
„Es ist überhaupt nicht verwunderlich, dass sie so einen Publikumsliebling wie Danja Milochin brauchen. Einem solchen Giganten bringt jemand wie Danja Milochin nichts Besonderes. Aber die Sberbank sendet damit eine Botschaft: Seht her, alle sind unsere Kunden, egal ob Teenager oder auch Rentnerinnen – wir sind überall, wir sind für alle da!“, glaubt Anton Bulanow, Experte des Zentrums für Kompetenzentwicklung im Marketing an der Nationalen Forschungsuniversität Hochschule für Ökonomie.
Milochin selbst glaubt auch, dass er in jeden Kontext und jedes Unternehmen mit einem Millionenpublikum passen kann. Er entwickelt nun eine Musikkarriere, wobei er offen sagt, dass man dafür nicht singen können muss. „Warum? Ich möchte singen, aber ich bin zu faul, um Zeit mit dem Lernen zu verbringen. Es gibt jetzt ein Autotune, damit kann man alles optimieren.“
Er beschreibt sich selbst wie folgt: „Ich bin in nichts ein Profi - außer in meinem Charakter. Ich bin ein Profi in Sachen Charakter“. Vor kurzem hat Milochin im Alter von 19 Jahren einen Maybach für 10 Millionen Rubel gekauft und 21 Tracks veröffentlicht – solo und in Zusammenarbeit mit berühmten Hip-Hop-Künstlern und Bloggern.
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!