Warum leben so wenige Russen in Eigenheimen, wenn das Land so groß ist?

Kira Lisitskaja (Foto: Legion Media)
In Russland träumen die Menschen davon, in ihren eigenen „vier Wänden“ zu leben, aber trotz der riesigen Größe des Landes hat sich nie ein „einstöckiges Russland“ entwickelt.

„Frische Luft und Frühstück auf der Terrasse, mal schnell von der Arbeit am PC in seinen Blumengarten gehen, der eigene Hof, in dem die Kinder spielen, keine mannshohen Zäunen“, zählt Diana Larezkaja, Image-Coach aus Moskau, die Vorzüge eines Eigenheims auf.

Ein paar Jahre nach der Hochzeit stand sie vor der Frage, ob die Familie in ein Haus oder eine Wohnung ziehen sollte. Sie wählte ein Townhaus, etwa 300 Quadratmeter groß, 15 km vom Moskauer Autobahnring entfernt. Bis in die Stadt dauert es mit dem Auto 15 Minuten, dort steht sie dann wie alle Moskauer im Stau. „Ich plane meine Woche wie folgt: Überwiegend bin ich im Homeoffice. Wenn ich nach Moskau fahre, vereinbare ich gleich mehrere Termine hintereinander. Für das Einkaufen habe ich eine feste Route. Aber jede ungeplante Besprechung zu Stoßzeiten kann im Stau enden.“

Hüttendorf Nowyje Weschki in der Region Moskau.

Roman Alechhin, ein Unternehmer, entschied sich ebenfalls für ein Eigenheim: „Als ich das Haus kaufte, dachte ich, ich würde jeden Abend am Kamin sitzen oder am Fluss spazieren. Aber daraus ist nichts geworden.“

Fragt man Russen, wo sie gerne wohnen würden – in einem Mehrfamilienhaus oder in einem Eigenheim – antworten fast 70 %, dass sie gerne in einem eigenen Haus wohnen würden. Niemand träumt davon, in einem Wohnblock mit ein paar Dutzend Nachbarn, gemeinsamen Treppenhaus und festen „Ruhezeiten“ zu leben. Aber warum hat sich dann nie ein „einstöckiges Russland“ entwickelt? Weniger als ein Drittel der russischen Bevölkerung lebt im eigenen Haus. Und das trotz der Verfügbarkeit von großen freien Grundstücken und relativ preiswertem Land.

Wenn Träume nicht mit der Realität übereinstimmen

Privathäuser in der Region Moskau.

Studien zufolge ist der Wunsch, in einem eigenen Haus zu leben, bei Stadtbewohnern in Russland sehr beliebt. „Ich würde sogar sagen, es ist ein Traum. Aber ein Haus mit allen Versorgungseinrichtungen ist erstens teuer und zweitens mit vielen bürokratischen Problemen verbunden“, erklärt Michail Alexejewskij, Leiter des Zentrums für Stadtanthropologie des Entwicklungsbüros Strelka gegenüber Russia Beyond.

In den meisten Fällen ist der Hausbesitzer für die Müllabfuhr, das Rasenmähen, die Poolreinigung, die Ungezieferbekämpfung und die sonstige Instandhaltung des Geländes verantwortlich, oder er zahlt dafür an die Verwaltungsgesellschaft der Reihenhaussiedlung. Oft werden Häuser als Rohbau verkauft – ohne Versorgungseinrichtungen und Infrastruktur: Der Eigentümer muss sich selbst um die Gas-, Strom- und Wasserinstallationen kümmern. Das ist in Russland so üblich.

Ein Mann, der sich wegen Coronavirus in Selbstisolation befindet, sprüht Kirschen von Schädlingen auf das Gartengrundstück im Stadtteil Ramenski der Region Moskau.

„Wir haben Hausbesitzer interviewt, die vom Eigenheim geträumt haben – aber die Probleme, die sie ständig bei der Instandhaltung haben, lassen sie fast verzweifeln. Sie fragen sich: Warum zum Teufel leben wir nicht in einer normalen Wohnung, wo man bei Problemen die Hausverwaltung anrufen und einen Handwerker bestellen kann.

Konstantin kaufte ein Grundstück und baute 2001 ein Haus in der Vorstadtsiedlung Dudino, etwa anderthalb Kilometer von der nächsten Metrostation entfernt. Das Grundstück und das 300 Quadratmeter große Haus entsprachen im Preis einer Zweizimmerwohnung in Moskau. Den Gasanschluss musste er auf eigene Faust legen lassen, was eine zusätzliche Million Rubel kostete.

„Es gibt keine Schulen, Kindergärten oder Sporteinrichtungen. Keine Geschäfte in der Nähe. Im Umkreis von fünf Minuten Fußweg gibt es nur einen Tante-Emma-Laden mit dem Notwendigsten: Brot, Nudeln, Bier. Es wäre schwierig, hier ohne Auto zu leben, besonders mit Kindern. Aber wir sind davon ausgegangen, dass wir die gesamte Infrastruktur in der Stadt, die 7 Minuten entfernt ist, nutzen können“, sagt er und versichert, dass sie sich vorher darüber im Klaren waren und nun nicht mehr in einer Stadtwohnung leben möchten.

Mehrfamilienhäuser und Gartengrundstücke in der Stadt Schtschelkowo, Region Moskau.

Außerdem gab es bereits ein Verständnis dafür, wie es ist, ein eigenes Haus zu besitzen: „Hier entscheidet man alles selbst. Wir waren vorbereitet, aber es macht einem schon etwas Angst. Das erschüttert den Mythos vom ,ruhigen Leben‛ Für viele Menschen ist es ein gewichtiger psychologischer Faktor: Wenn man noch nie in einem Haus gewohnt hat, weiß man gar nicht, wie man dort leben soll.“

Das Argument „gefühlsmäßig bin ich für eine solche Veränderung noch nicht bereit“ ist oft zu hören, obwohl fehlende finanzielle Mittel immer noch der Grund Nummer eins sind, nicht in ein eigenes Haus zu ziehen. „Es sind in der Regel sehr wohlhabende Leute, die es sich leisten können, diese Hürden zu überwinden und sich ihr Traumhaus zu bauen. Es gibt keine Typenfertigung solcher Gebäude. Nicht so sehr wegen der Grundstückspreise, sondern wegen der Kosten, die mit den Versorgungsleitungen und -anschlüssen verbunden sind“, meint Alexejewskij.

Andere Regeln

Bau der Cottage-Gemeinde Nowije Weschki in der Region Moskau.

Wenn Sie ein Haus wollen, müssen Sie es höchstwahrscheinlich selbst bauen. Die Bauwirtschaft in Russland ist ausschließlich auf Mehrfamilienhäuser ausgerichtet, und zwar auf allen Ebenen, sagt Roman Popow, Dozent an der Fakultät für Stadt- und Regionalentwicklung der Wirtschaftshochschule Moskau. „Traditionell war einer der Indikatoren für den wirtschaftlichen Erfolg des Territoriums die Zahl der übergebenen Wohnungen. Deshalb fordern Gouverneure und Bürgermeister so viel wie möglich Quadratmeter“, stellt er fest.

Die Bauwirtschaft pflastert die Städte weiterhin mit Wohnblocks zu. Im April 2018 sagte der russische Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew, dass monotone Hochhaussiedlungen 77 % des Wohnungsbestands des Landes ausmachen, „mit sehr dichter Bebauung und nicht immer entwickelter städtischer Infrastruktur“. Der private Sektor hingegen umfasst das Luxussegment (meist außerhalb oder am Rande der Stadt) und den Altbau- Wohnungsbestand, in dem Familien seit Generationen wohnen.

Private Ferienhäuser.

Konstantin, der 50 % seiner Zeit mit seiner Arbeit in den Niederlanden verbringt, sagt, dass die Regeln, nach denen die Bauwirtschaft in Russland funktioniert, sich wesentlich von denen in Europa unterscheiden. „Die Lebensqualität in den Niederlanden wird sich in keiner Weise ändern, egal ob man in der Stadt oder im Dorf mitten auf dem Feld wohnt. Sie haben ein normales Abwassersystem, eine ausreichende Stromversorgung, ein Krankenhaus und Geschäfte in der Nähe. Die Stadtplanung ist so ausgelegt, dass der Bauherr sonst keine Baugenehmigung erteilt bekäme.

In Russland ist die Infrastruktur keine Voraussetzung. Außerdem muss ab 2018 keine Baugenehmigung mehr eingeholt werden – sie wurde durch eine Anzeigepflicht vor Baubeginn und nach Fertigstellung ersetzt. „Was Sie dort mit den Anschluss an die Versorgungsleitungen machen, ist Ihre eigene Sache. Unsere Nachbarn sagen: ,Wir brauchen keinen Strom, wir kommen, schalten den Generator an, grillen Fleisch und gehen wieder.‛ Und sie haben das Recht dazu. In den Niederlanden wäre so etwas nicht möglich“, sagt Konstantin.

Das sowjetische Stereotyp

Verkauf eines Privathauses in einem der Dörfer der Region Tula.

Doch trotz der Träume vom Eigenheim überwiegt in den Köpfen der Russen immer noch das „sowjetische Erbe“. „Bei uns wird ein Eigenheim meist noch mit einem Zweitwohnsitz assoziiert, so etwas wie ein Gartenhaus. Auch wenn es ein schönes, gut ausgestattetes Haus ist“, glaubt Popow.

Mehrfamilienhäuser werden als etwas Komfortableres und damit Prestigeträchtigeres wahrgenommen. In der Sowjetunion galt es als „unbestreitbarer Indikator für den Erfolg“, eine Wohnung, ein Auto und eine Datscha zu haben. In Russland geben die Menschen beim Bau oder Kauf eines Eigenheims meist nicht ihre Wohnung auf. „Mit anderen Worten: Unsere Häuser sind keine Alternative zu einer Wohnung, sondern eine Art Ergänzung. Oder eine Option als „Ruhesitz“. Obwohl im Süden des Landes der Stellenwert von Eigenheimen im Wertesystem höher ist als in anderen Regionen, vor allem in Moskau und St. Petersburg“, ist Popow sich sicher.

Tatjana Fedorzewa lebt in Taganrog, im Süden Russlands. Die kleine Stadt mit ihren 255.000 Einwohnern liegt am Ufer einer Bucht. Seit 25 Jahren lebt sie im 6-Zimmer-Haus ihres Mannes und möchte nicht mehr in eine Wohnung zurück. „Jetzt gibt es viele Mehrfamilienhäuser in Schlafsiedlungen, früher gab es vorrangig Einfamilienhäuser. Wir haben eine große Altstadt mit Häusern aus dem 18. Jahrhundert. Jetzt ist das Verhältnis von Einfamilien- zu Mehrfamilienhäusern etwa 50 zu 50.“

Privathaus in Jalta.

Viele derjenigen, die im Süden Russlands Häuser kaufen oder bauen, sind Zugereiste aus nördlichen Regionen. Ljubow Alexandrowna zog vor zehn Jahren von Jakutien nach Taganrog. „Es war ein Traum, in den Süden zu ziehen, um dort den Lebensabend zu verbringen“, sagt sie. Ihre Familie kaufte ein zweistöckiges Haus, 240 Quadratmeter groß, für 4,5 Millionen Rubel. Es war ohne Innenausbau und Versorgungsleitungen; sie mussten alles selbst fertigstellen. In der Nähe gibt es eine Schule, einen Kindergarten und einen Lebensmittelladen.

„Vor fünf Jahren gab es hier einen sehr großen Zustrom von Neuankömmlingen. Sie riefen uns einfach über die Sprechanlage an und fragten, ob wir das Haus zufällig verkaufen würden“, erinnert sie sich.

Eine Besonderheit der russischen Provinz sind die großen Grundstücke mit Eigenheimen, sagt Popow.. Diese seien aber abgenutzt und nicht immer mit allen notwendigen Annehmlichkeiten ausgestattet. „Solcher Wohnraum wird - ungeachtet dessen, dass man separat lebt – als Wohnraum zweiter Klasse wahrgenommen. Die Menschen dort träumen davon, in eine ,normale‛ Wohnung zu ziehen – in ihrer Vorstellung ist das meist eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus. Sowohl das sowjetische Stereotyp als auch die Stadtplanungspolitik und die Wirtschaft orientieren sich an dieser Idee.“

Etwa 22,6 % der russischen Bevölkerung haben keinen Zugang zu zentralen Abwassersystemen, die meisten von ihnen nutzen Senkgruben, so eine Rosstat-Studie. Laut dieser Studie müssten fast 40 % der russischen Wohngebäude repariert, saniert oder aber abgerissen werden.

Privathaus im Innenhof der Wohnanlage „Odinburg“.

Mit der Zeit sind auch die Datschen immer weniger begehrt. Die Pandemie mit Lockdown und Selbstisolation sorgte zwarin für einen Anstieg der Nachfrage nach Sommerhäusern. Aber dies werde wohl kein nachhaltiger Trend sein, glaubt Alexejewskij: „Die Idee der Datscha war ein sehr wichtiger sowjetischer Wohlfahrtsmythos. Jetzt sind diese Datschen zu einer Last geworden. Ständige Staus, um dorthin zu gelangen, und Ressourcen, um sie in Schuss zu halten, führen dazu, dass jeder versucht, solche Häuser zu verkaufen, aber niemand will sie kaufen.“

>>> Warum leben Russen in dem riesigen Land auf engstem Raum? 

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.

Weiterlesen

Diese Webseite benutzt Cookies. Mehr Informationen finden Sie hier! Weiterlesen!

OK!