Warum immer mehr russische Frauen Glöcknerinnen werden

Lifestyle
WIKTORIA RJABIKOWA
Immer mehr Mädchen orthodoxen Glaubens in Russland beginnen noch in ihrer Schulzeit, mehreren Tonnen schwere Glocken zu läuten – und sie können das genauso gut wie Männer. Wie schaffen sie das?

Eine junge Frau in schwarzem Rock und Kopftuch steigt die Holztreppe der Kirche hinauf und gelangt, ohne die Puste zu verlieren, auf der obersten Etage an. Ich kann kaum mit ihr mithalten. Sie betritt einen Raum mit Backsteinwänden und einem kleinen Glockenturm, ergreift sechs Schnüre, die an den Glocken befestigt sind, und beginnt zu läuten.

Auf der Bank neben ihr liegt sicherheitshalber ein Paar Lärmschutz-Kopfhörer und ich wünschte, ich hätte sie gleich aufgesetzt. Das ohrenbetäubende Läuten macht mich sofort schwindelig und es dauert mindestens eine Minute, bis ich mich daran gewöhnt habe. Die junge Frau hingegen braucht weder Kopfhörer noch Ohrstöpsel.

„Ich habe kein Problem damit – meine Ohren sind seit meiner Kindheit geschädigt“, erklärt sie lachend, gibt  mir einige Schnüre der kleinsten Glocken in die Hand und spielt weiter, wobei sie meine Hand kontrolliert. Die Belastung ist so groß, dass meine Hand nach etwa zehn Sekunden bis zum Ellbogen taub ist. Und das Läuten klingt furchtbar. 

Die 27-jährige Xenia Plechanowa läutet seit 14 Jahren die Glocken und sie ist nicht die einzige Glöcknerin in Russland. Ihr zufolge sind die Hälfte ihrer Bekannten Glöcknerinnen und in den letzten zehn Jahren waren etwa ein Drittel der Teilnehmer an den russischen Glockenspiel-Festivals Frauen. Darüber berichten auch Glöcknerinnen aus anderen russischen Städten in Interviews. Dabei entscheiden sich orthodoxe Frauen bereits in ihrer Kindheit für diese Tätigkeit und sind bereit, ihr Leben daran zu binden. 

Ausbildung und erste Prüfungen

Die Jungen und Mädchen werden bereits im Schulalter an Sonntagsschulen oder an speziellen Schulen für Kirchenglocken ausgebildet. Eine musikalische Vorbildung ist nicht obligatorisch, nur ein gutes Rhythmusgefühl und Lust. Während des Unterrichts üben die Schüler vor allem die Melodien, die ihnen von ihren Lehrern beigebracht wurden, und verwenden sie als Grundlage für ihre eigenen improvisierten Kompositionen. Sie erlernen auch die Theorie (bis hin zu einem Vortrag über die verschiedenen Glockenarten), sie erfahren auch, wie man die Morgen- und Abendgottesdienste und ihre verschiedenen Abschnitte ankündigt. Das Läuten für Hochzeiten und Begräbnisse wird in einem gesonderten Lehrgang angeboten. Die Ausbildung kann entgeltlich oder unentgeltlich erfolgen und dauert zwischen zwei Monaten und zwei Jahren – es existieren keine einheitlichen Standards.

Xenia Plechanowa wurde in einer Familie orthodoxer Gläubiger in einem kleinen Dorf in der Nähe von Alexejewskoje geboren. Von klein auf besuchten sie und ihre Eltern die örtliche Auferstehungskirche und das Festival Alexejewskije pereswóny – bei solchen Festivals geben Glöckner aus ganz Russland Konzerte auf dem Glockenturm der Kirche und bieten Workshops an. 2008, im Alter von 13 Jahren, läutete Xenia in der Sonntagsschule zum ersten Mal selbst die Glocken – die Jungen, die bereits läuten konnten, boten ihr an, es zu versuchen.

„Obwohl meine Mutter Akkordeonistin ist, hatte ich kein gutes Hörvermögen und keine Stimme, nur ein gutes Rhythmusgefühl. Die anderen Glockenspieler sahen mich fragend an und sagten: ,Ein Mädchen ohne Gehör – wie das?ʻ, nur meine Mutter und meine Großmutter glaubten an mich. Aber irgendwie gelang es mir schon beim ersten Mal das Einläuten (wofür die kleinsten Glocken verwendet werden – Anm. d. Red.) zu spielen, was normalerweise nicht jeder gleich schafft“, erzählte Plechanowa.

Xenia hatte kein Problem damit, ihr Hobby mit der Schule zu verbinden, aber im Unterricht wurde sie gehänselt und als „Mönch“ bezeichnet. Bereits 2010 trat sie beim Glockenspiel-Festival Alexejewskije pereswóny auf. 2011 begann sie, andere selbst zu unterrichten. Xenia hat auch die Prüfung als Glöcknerin abgelegt.

Während der Ausbildung hatten wir sechs Alt-Glocken (in der mittleren Tonlage – Anm. d. Red.) und zwei Pedale zur Verfügung, auf denen man jede Melodie schön spielen konnte. Als ich meine Prüfung ablegte, bekam ich nur drei „Einläutglocken“ und eine große Glocke und sagten mir: „Läute!“ [was normalerweise natürlich zu wenig ist – Anm. d. Red.]. Aber ich konnte ein schöne Melodie spielen. Von diesem Moment an fühlte ich mich jedes Mal, wenn ich auf den Glockenturm stieg, moralisch stärker als alle anderen. Und ich sagte mir: ,Ich kann es! Ich kann alles!ʻ“, erinnert sich die Glöcknerin.

Glaubenskrise

Im selben Jahr 2011 starb Xenias Großmutter, woraufhin die junge Frau eine Glaubenskrise durchlebte. Auf Drängen ihrer Eltern schrieb sie sich an der Föderalen Universität Kasan als Landschaftsarchitektin ein und hörte vorübergehend mit dem Glockenläuten auf.

„Irgendwann habe ich mich gefühlt, wie auf Entzug. Wenn ich in der Nähe Glockengeläut hörte, war ich ganz aufgeregt und dachte: Wie kann es sein, dass nicht ich es bin, der da läutet? Bald merkte ich, dass ich einen Fehler begangen hatte und kehrte zurück“, erzählt Plechanowa. 

Heute arbeitet sie als Oberste Glöcknerin in der Kirche des Heiligen Sergius von Radonesch im Armenhaus Loschkinskaja im Zentrum von Kasan – die Glocken dort wurden 2021 erneuert.

„Sobald sie aufgehängt worden waren und ich sie läuten durfte, sauste ich schneller als alle anderen den Glockenturm hinauf. Als ich das erste Mal auftrat, war ich so emotional so geladen, dass ich noch zehn Minuten lang Gänsehaut hatte. Heute habe ich wieder Lust, in die Kirche zu gehen“, berichtet Plechanowa.

„Als ob das Läuten läutert“

Anstelle von Plechanowa lernen nun die beiden Freundinnen Veronika, 15, und Jekaterina, 13, in der Alexejewskij-Kirche das Glockenläuten. Die Eltern der Mädchen sind ebenfalls gläubig und beide gehen seit ihrer frühen Kindheit zur Sonntagsschule. Im Jahr 2020 entschied sich Veronika dafür, den kurz zuvor in der Kirche organisierten Glöckner-Kurs zu besuchen und überzeugte bald auch Jekaterina davon, ihr Gesellschaft zu leisten.

„Beim ersten Mal wurde mir nur gezeigt, wie ein Glockenspiel aussieht. Zuerst lernte ich auf einem kleinen tragbaren Glockenspiel zu spielen, wir lernten kleine kurze Passagen, jetzt kenne ich nur  ein paar Harmonien und spiele zwei Glocken. Es war viel schwieriger, auf dem großen Glockenturm spielen zu lernen, aber ich mag es lieber – das Läuten beruhigt mich und läutert mich irgendwie, es ist wunderschön. Und ich sitze einfach gern im Glockenturm und schaue mir die Natur an“, sagt Veronika.

Jekaterina sieht das genauso. Es macht ihr auch Spaß, vom Glockenturm aus die Menschen zu beobachten, die zum Gottesdienst eilen oder ihren Geschäften nachgehen. Sie erzählt nicht jedem von ihrer Faszination für das Glockenläuten - sie sagt, es gebe Mitschüler, die sie dafür missbilligen.

Glockenläuten mit der Seele einer Frau

Laut Xenia Plechanowa waren die Glöckner in Russland zwar seit jeher Männer, aber es gibt keine Geschlechtertrennung mehr in diesem Beruf. Das Haupthindernis sind die körperlichen Voraussetzungen: Mädchen geben schneller auf als Jungen, wenn es ihnen zu schwer ist, die Glocken zu läuten.

Zudem spielen Männer und Frauen auf unterschiedliche Weise, meint Plechanowa. „Männer läuten die Glocken nicht so filigran. Und sie schaffen es, mit allen Glocken zu spielen, das ist schwer für mich, es ist mir immer noch ein Rätsel, wie sie das machen“, gibt Xenia zu. 

Einige Glöckner, sagt sie, lernen zum Spaß, Dubstep auf den Glocken zu spielen und diskutieren im Internet über das Glockenläuten. Xenia steht dem skeptisch gegenüber – ihrer Meinung nach ist es besser, das Glockenläuten im echten Leben zu genießen. 

Plechanowa hat sich schon immer zum weiblichen Glockengeläut hingezogen gefühlt, das zwar langsamer, aber dafür umso inniger ist. „Bei manchen Mädchen zeichnet sich jeder Glockenschlag im Gesicht ab, viele von ihnen lassen sich vom Glockenläuten förmlich durchdringen, dass ich manchmal einfach nur wie gebannt starre und nicht einmal blinzeln kann. Ich selbst bin sehr empathisch – während des Läutens übermittle ich all diese Emotionen und dann fühle ich mich besser, denn ich steige beseelt vom Glockenturm herunter und fühle mich schon gut und ruhig“, schließt Plechanowa.

>>> Gibt es in Russland typisch männliche und typisch weibliche Berufe?