Wie werden in Russland Erotik-Partys für Menschen mit Einschränkungen organisiert?

Evgenia Ignatova
Ein Tamburin, das direkt auf dem Körper der Person gespielt wird, japanisches Bondage, aber vor allem die bewusste Wahrnehmung der eigenen Gefühle — wir waren auf Russlands erster Party für Menschen mit Einschränkungen und berichten hier über unsere Eindrücke.

Zu den Klängen eines schamanischen Tamburins und Trance-Gesängen beginnen die Gäste zu tanzen, sich zu berühren und erkunden sich dabei – erst zaghaft, dann etwas eifriger.

Es vergeht einige Zeit. Ein Mann liegt auf dem Boden, eine Frau liegt auf ihm, ein paar andere Leute stehen daneben. Ich möchte weder in ihre Gesichter blicken noch ihre Körper ansehen, ihr Aussehen, ihr Geschlecht oder ihre Orientierung beurteilen oder, noch schlimmer, darüber nachdenken, ob sie irgendwelche Diagnosen in ihrer Krankenakte haben, die als Einschränkungen eingestuft werden könnten.

Ich will sie nicht anstarren, um zu erkennen, auf welchem Körperteil wessen Hand liegt, wer nackt ist und wer nicht – das wäre zu langweilig. In meinen Stuhl zurückgelehnt beobachte ich das Gewirr aus Körpern: Sie bewegen sich bereits wie ein einziges Kunstwerk. Vielleicht sehen so Menschen aus, die leidenschaftlich verliebt sind und sich nicht darum kümmern, was andere denken. Vielleicht würde ich auch so aussehen, wenn der Mensch, den ich liebe, jetzt gerade hier wäre.

All das geschieht bei SenCin(SensualCinema), einer erotisch-sinnlichen Filmparty für Menschen mit Einschränkung. Diese Veranstaltung finden seit drei Jahren in St. Petersburg (und gelegentlich in Moskau) statt. Man kann es nicht als Sexparty bezeichnen, da Geschlechtsverkehr verboten ist, und die Veranstaltung selbst zielt nach Angaben der Veranstalterin Gala darauf ab, „Energie zu sammeln und die Sinnlichkeit zu fördern“, und zwar für alle Menschen mit jeglicher Art von Einschränkung.

Von Filmvorführungen und Vorträgen bis hin zu Workshops

Aber dazu muss man erst einmal zur Party kommen. Zwischen einem Jumphouse und einer Kletterhalle befindet sich ein unauffälliger Eingang mit zugezogenen Vorhängen. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Passant auf die Idee kommt, hineinzugehen. Hinter der Tür befindet sich ein kleines Loft mit Backsteinwänden, in dem die Veranstalterin Kerzen, Getränke und Kunstblumen arrangiert hat. Gala hat einen Kurzhaarschnitt und ist mit einem Schlitz-T-Shirt, leuchtend gelben Bikini und String-Tanga bekleidet. Ihr zur Seite steht ein junger Mann in schwarzem Sakko, Unterhose und Strapsen. Um sie herum läuft ein hochgewachsener Mann in den Fünfzigern mit kleinem grauen Bart herum, der auf einem schamanischen Chakassen-Tamburin trommelt.

Gala veranstaltete ihre erste Party 2019. Vor vier Jahren begann sie, ihre Sexualität zu erforschen, gleichzeitig besuchte sie Sexpartys und Vorträge und kam auf die Idee, ein erotisches Theater zu gründen. Aufgrund mangelnder Ressourcen eröffnete Gala schließlich den ersten Filmclub Russlands für erotische Filme – bei den Vorführungen gab es Glühwein, Kräutertee, Snacks und einem „lebenden Tisch“ – einem Mann, der auf dem Tisch lag, dessen Körper mit Essen belegt war und mit dem die Besucher interagieren konnten.

„Ein Mädchen ,oben ohneʻ spielte Geige. Die Paare küssten sich, kuschelten und schauten einen Film. Ich selbst habe damals einen kleinen Vortrag über den Film Im Reich der Sinne gehalten, aber ich war furchtbar nervös. Danach diskutierten wir darüber. Zu unseren nächsten Vorführungen kamen auch Referenten. Das Feedback war sehr gut, es inspirierte mich und ich machte weiter“, erinnert sich Gala an die erste Party.

Mit jeder Show bot die Veranstalterin neue Performances und Aktivitäten und schon bald wurde die Veranstaltungsreihe bei Menschen mit Einschränkungen über die sozialen Medien bekannt. Gala stellt jedoch klar, dass die „Inklusion“ alle Menschen einbezieht, unabhängig von Einschränkung, Geschlecht, Aussehen oder sexueller Orientierung – jeder ist bei SenCin willkommen.

„Ich begann zu überlegen, was ich tun könnte, um die Partys inklusiver zu gestalten und jeden zu akzeptieren, der zu uns kommen wollte. Wir haben einen Kurzfilm mit vielen Leuten gedreht, die sich sehr von einander unterschieden, sowohl optisch als auch inhaltlich“, sagt Gala.„Mich hat dieses Konzept inspiriert, bei dem sich völlig verschiedene Menschen in derselben Location treffen und in einer einzigen Berührung miteinander verweben können.“

Um bei SenCin mitzumachen, muss man eine Video- oder Sprachnachricht mit persönlichen Fotos einsenden und Fragen dazu beantworten, was für den potentiellen Gast Sexualität bedeutet, wie er diese persönlich wahrnimmt und was ihn an dem Partyformat reizt. Der Eintrittspreis beträgt 3.000 Rubel (36,00 €) – diesen Betrag musste auch ich bezahlen: „Das Geld geben Sie nicht umsonst aus!“ Die Partys werfen nicht viel Gewinn ab – alles geht für die hohe Miete, die Requisiten und andere Ausgaben drauf. Laut der Veranstalterin betrug der Nettogewinn der letzten Party gerade einmal 5.000 Rubel (60,00 €).

Nach Eingang der Zahlung gibt Olga die Adresse bekannt und hilft gegebenenfalls bei der Wahl des Outfits. In der Regel handelt es sich dabei um Accessoires, die auf dem bloßen Körpergetragen werden, oder Reizwäsche, darunter Dessous, Seiden-Yukatas, durchscheinende Kleider und anderes mehr. Bei der Kleiderordnung gibt es jedoch keine Geschlechtertrennung – jeder kann sich so kleiden, wie er sich selbst sieht.

Das etwa hundert Quadratmeter große Loft beherbergt eine Vielzahl von Kissen, einen Teppich, mehrere Sofas, Stühle und einen Beamer, der eine Videosequenz mit abstrakt ineinander verschlungenen Körpern an die Wand wirft. Auf einem der Tische liegen venezianische Masken, die dem Film Wilde Orchidee entstammen könnten. Im Nebenraum gibt es eine Bar und eine „Teestube“, die aus zwei Sofas, einem Tisch und einem kompletten Teezeremonie-Set besteht.

Das warme, gedämpfte Licht und die vielen Details vermitteln das Gefühl, sich in einem exklusiven Club mit orientalischem Thema zu befinden. Ein paar Mal prüfe ich nervös mein Outfit, das aus einer Hose mit langen Einschnitt, einem Satin-Top und einem Hemd aus dem gleichen Material besteht, und denke, dass ich für diesen Rahmen nicht passend angezogen bin.

Ein paar Minuten später trete ich an den Musiker heran, der sich gerade mit der heutigen Referentin unterhält, einer bezaubernd hübschen Blondine. Sie berührt meine Brüste fast sofort, nachdem sie um Erlaubnis gefragt hat, und prüft mit kindlicher Direktheit und Begeisterung, ob sie echt ist oder nicht. Ihr selbst scheint der Gesprächsverlauf peinlich zu sein, als ob sie auf diese Weise versuche, eine gemeinsame Basis zu finden.

„Nee, ist schon gut, ich gehe als offenbar als ,eine von unsʻ durch“, geht mir durch den Kopf.

Vom schamanischen Shibari-Abend bis zum gemütlichen „Hauskonzert“

Und so sitzen etwa 20 Personen auf Sofas und Kissen, reichen eine künstliche Rose im Kreis herum und sprechen darüber, wie sie Sexualität wahrnehmen.

Für viele geht es darum, sich selbst kennen zu lernen. Es geht um Stärke, Freiheit und den Ausdruck der eigenen Gefühle. Für andere ist es fast ein wunder Punkt. Eine junge Frau gesteht, dass sie noch nie einen Orgasmus mit einem Mann erlebt habe und scheint zu seufzen. Sie erkennt, dass sie hier frei über ihr Problem sprechen kann und niemand sie schräg anschaut.

Einige geben ihren Namen und Beruf an, andere ziehen es vor, anonym zu bleiben. In einer kurzen Vorstellungsrunde erfahre ich, dass es Zahnärzte, Ingenieure, Musiker, Programmierer und zwei Geburtshelfer gibt, die direkt nach einer Operation zu SenCin gekommen sind.

Während dessen fesselt Akio, einer der Teilnehmer, ein dunkelhäutiger Transgender-Mann (er bittet darum, als Mann angesprochen zu werden) mit Afrolook, eine junge Frau und spricht dabei auch über Sexualität. Er sagt, er freue sich riesig, hier zu sein, und es sei ihm peinlich, zum ersten Mal in seinem Leben seinen Körper zu zeigen, da seine Transformation noch vollständige abgeschlossen sei. Akio hat das Gefühl, dass nicht alle auf der Party für Genderfragen sensibilisiert sind. Aber er fühlt sich hier wohler als bei anderen Menschen im normalen Leben, denen er nicht allzu viel darüber erzählt, in welchem Körper er geboren wurde.

„Manchmal scheint es sicherer zu sein, es nicht zu erwähnen, aber es fühlt sich psychologisch so beschissen an. <...> Manchen Leuten kann man es überhaupt nicht erklären. Und manchmal, ja, ist es sinnlos zu erklären, aber man muss sich wehren und Grenzen setzen. Auf einer Party ist der taktile Kontakt wichtiger als die Unwissenheit – hier lerne ich den anderen durch Berührung und nicht durch Worte kennen“, erklärt Akio.

An der Bar teilen zwei junge Frauen mit einem Glas Sekt in der Hand ihre Eindrücke des Abends. „Normalerweise will man wenigstens miteinander reden – ich kann mir nicht vorstellen, wie sie sich so ohne Weiteres berühren können!“, wundert sich die eine von ihnen und nimmt einen Schluck. In diesem Moment kommt Akio auf mich zu und bittet mich, meine Hände streicheln zu dürfen. Ich lasse es zu, schließe die Augen und stelle mir vor, dass mein Freund mich in Moskau erwartet und mich berührt. Ich denke darüber nach, wie leicht es mir früher fiel, andere Menschen zu berühren, bevor ich eine ernsthafte Beziehung hatte. Aber jetzt fühlt es sich befremdlich und inakzeptabel an (na ja, nur wenn es sich um eine redaktionelle Recherche handelt). Die schamanische Musik verklingt. Einer der Gäste nimmt eine Gitarre zur Hand und fängt an, irgendetwas von, ich glaube, Maroon 5, Imagine Dragons und Chris Rea zu spielen und zu singen. Es entspannt – und ich stimme dem Shibari, das heißt der Bindung, zu.

Von Shibari zu Tee und Bewusstsein

Wir sprechen kaum mit unserem Partner – er konzentriert sich darauf, auf meine Schultern und Schlüsselbeinen Muster zu zeichnen. Das sei, was ihm Freude bereitet. Ich sehe mich um. Die Gitarre istwieder der Schamanenmusik gewichen und der Musiker spielt sein Tamburin direkt auf der vor ihm liegenden jungen Frau. Schon von weitem kann ich sehen, wie sie in den Rhythmus des Tamburins eintaucht, sich von den Alltagsproblemen löst und entspannt.

Ein Knoten, noch ein Knoten. Ich fühle mich eingeengt und verspüre keine solche Erotik wie offensichtlich der Mann neben mir, dem eine junge Frau die Hände fesselt, oder das verliebte Paar, das einander streichelt, während es auf dem Sofa sitzt, oder ein anderer entblößter Mann, der dem ganzen Treiben zusieht. Es scheint, als ob jeder von ihnen zum ersten Mal in seinem Leben über Sex sprechen darf, sich seiner sexuellen Vorlieben klar werden und sich für eine Weile frei von etablierten kulturellen Grenzen fühlen kann.

Die Zeit vergeht verdammt schnell, denn seit Beginn des Abends sind bereits einige Stunden vergangen. Ohne dass ich es merke, bin auch ich schon vollkommen gefesselt. Ich spüre die Erleichterung, wie sich die Knoten allmählich lockern – nicht nur die äußeren, sondern auch die in meinem Kopf.

In der Zwischenzeit sind eine lächelnde junge Frau im Rollstuhl und deren Freundin in das Loft gekommen. Ich biete ihr sofort an, ihre Sachen aufzuhängen. Sie antwortet höflich, dass sie das selbst erledigen könne.

Unwillkürlich verspüre ich Scham für mein Angebot. Ich erinnere mich, dass ich mich vor fast einem Jahr verletzt hatte und mit eingegipstem Bein langsam durch das Einkaufszentrum lief und Fremde mir sagten: „Warum ist sie überhaupt hierher gekommen? Sie hätte besser zu Hause bleiben sollen!“ In diesem Moment wäre auch ich gerne auf einer Party gewesen, auf der niemand auf meine Einschränkung achtet, keine mitleidigen Fragen stellt und mich als normalen Menschen wahrnimmt.

Nach außen hin wirkt Maria (Name auf Wunsch geändert) schüchtern und ein wenig verlegen, wenn man ihr Sekt bringt, sie fragt, ob sie etwas braucht, oder sich mit ihr fotografiert. Es stellt sich heraus, dass sie eine solche Party zum ersten Mal besucht.

„Es hat mir besser gefallen, als ich erwartet hatte“, sagt Maria nach dem Abend. „Zuerst wollte ich nicht wirklich hierher kommen, weil mich das nicht interessierte, aber dann sah ich die Anzeige und dachte, warum nicht eine neue Erfahrung sammeln? Ich habe nur die Teezeremonie ausprobiert, bei der man mit verbundenen Augen Tee trinkt und Assoziationen äußert. Und gleichzeitig malt der Teemeister auf der Grundlage deiner Worte ein Bild auf deinen Körper. Es war ein komisches Gefühl mit dem Pinsel. Es ist interessant, wenn dich nichts vom Geschmack und Geruch ablenkt. Aber ungewohnt, denn ich bin es gewohnt, alles zu visuell wahrzunehmen.“

Sie sei auch nicht bereit, mit Fremden zu interagieren, befürworte aber generell das Konzept solcher Partys. Alle Veranstaltungen in Russland sollten inklusiv und für Menschen mit jeder Art von Einschränkung geeignet sein, sagt Maria.

Dennoch nehmen Menschen mit Einschränkungen noch nicht so häufig an SenCin-Partys teil, was vor allem an dem von der Gesellschaft gesetzten Rahmen liege, sagt die Veranstalterin Gala.

„Schon für einen normalen Menschen ist es schwierig, an einer Erotik-Party teilzunehmen, und ich denke, für einen Menschen mit Einschränkung ist es noch schwieriger. Und es gehört viel Mut dazu, etwas an sich selbst zu ändern, sich von Vorurteilen zu lösen und hierher zu kommen“, erklärt Gala.

Sie träumt davon, dass mehr Menschen mit Einschränkungen an ihren Partys teilnehmen können, und plant, in Zukunft Integrationsspezialisten hinzuzuziehen, um Neuankömmlingen bei der Eingewöhnung zu helfen.

Während der Film gezeigt wird, gegen zwei Uhr morgens, machen sich plötzlich die meisten Gäste auf den Weg – es sind noch genau zwölf Minuten bis zum Hochziehen der Brücken. In aller Eile ziehen sich alle an, suchen ihre Taschen und binden ihre Schals um. Sie streifen augenblicklich die erotische Kostüme, die Rituale und die Sinnlichkeit ab und kehren in ihre Alltagsroutine zurück. Die Inseln von St. Petersburg sind durch Zugbrücken miteinander verbunden, die nachts zum Passieren des Schiffsverkehrs hochgezogen werden, und wenn man den richtigen Zeitpunkt verpasst, läuft man Gefahr, erst am nächsten Morgen nach Hause zu kommen.

Im Taxi bin ich in Gedanken versunken. Anders als bei Sexpartys geht es bei SenCin nicht darum, jemanden zu treffen und sofort Sex zu haben. Es ist ein Treffen, bei dem frei über sexuelle Probleme oder sogar über einen langweiligen Job gesprochen werden kann. Es ist eine Party, auf man sich nicht nur selbst zeigen kann, sondern sich vielleicht auch selbst lieben. Vor allem, wenn man früher wegen des eigenen Aussehens schüchtern war oder dachte, nicht gut genug für jemanden zu sein. Es ist ein Ort, an man seine Gefühle sortieren kann – für sich selbst und für andere. Und schließlich ist es eine Gelegenheit, die Probleme zu vergessen, die einen außerhalb des Lofts ständig verfolgen, und sich bei einem Abend „für alle“ zu entspannen, ohne unangenehmen Fragen oder verurteilenden Blicken ausgesetzt zu sein.

„Ich bin noch nie so kurz vor dem Hochziehen an der Brücke angekommen“, sage ich zu dem Taxifahrer, der auf das Gaspedal drückt, um mich ins Stadtzentrum zu bringen, wo ich untergebracht bin.

„Werden in Moskau die Brücken nachts etwa nicht hochgezogen? Das ist doch unromantisch!“, antwortet er mit einem Lachen.

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